ausgehen und rumstehen: Mutige Rheinländer wollen Geschlechtsverkehr nach dem Besuch im Olympiastadion
Das Erste, was man in dieser dicken Stadt lernen muss, ist verpassen. Besonders, wenn man ohnehin nicht über allzu viel Geld verfügt. Während andere Großstädte monatliche Stadtzeitungen haben, erscheinen die Berlins vierzehntägig – wiewohl man irgendwann feststellt, dass man auch ohne sie prima Bescheid weiß. Irgendeine Mail kommt schließlich immer.
Freitag zum Beispiel hätte man in die Maria gehen können, wo Stereo Total und andere ein Solikonzert für die Kreuzberger endart-Galerie geben sollten. Da der Besuch aus der alten Heimat Köln aber erst spät eintraf, entschied man sich, lieber ein, zwei ruhige Biere in der leider unterbesuchten Kaschemme am Arkonaplatz, dem Kap Arkona, einzunehmen. Mit Freund A., dem Wirt der Bar, gab es Männerqualitätsgespräche über die Sicherheitsironie nach dem Problemsex, den Marktwert für Katzengewölle und die unscheinbare Erotik von Spülhänden. Zum Schluss stellte er uns ein Feuergesöff mit Strohhalm hin, das sich „B-52“ nannte. Der Heimmarsch folgte so um drei. Oder war es halb vier?
Das Gefühl, etwas verpasst zu haben, kam jedenfalls nicht auf. Hatte nicht Zizek, seines Zeichens der Lieblingsphilosoph des Besuchs, gemeint, der subversivste Akt wäre der, sich aus allem herauszuhalten? Gerade in der heutigen Informations- und Kontrollgesellschaft?
Geht so komplett natürlich nicht, schließlich hatten wir schon Tickets. Fürs Olympiastadion. Für das Auswärtsspiel des Tabellenletzten 1. FC Köln beim krisengeschüttelten Hauptstadtklub. Um es kurz zu machen: Der Samstagnachmittag war der beste Samstagnachmittag seit geschlagenen 24 Jahren. Am Ende lagen sich enttäuschte Berliner tröstend in den Armen, während mutig hergefahrene Rheinländer ihr Glück nicht fassen konnten. Irre Gesänge von „Auswärtssieg!“ bis „Wir! Wolln! Ge-schlechtsverkehr, wir wolln, wir wolln Geschlechtsverkehr!“ dröhnten aus den glückseligen Gesichtern in der Bahn zurück – hier machte sich bemerkbar, wie viele Rheinländer zu Besuch oder inzwischen ganz hergezogen waren.
Nach der Medienkontrolle in den eigenen vier Wänden wieder raus in die Nacht. Laut Zeitung spielten Hormonstörung im Weissbeckerhaus, wir entschieden uns für die Minibar im Graefekiez. A. war auch wieder da, später kamen noch S. und A. II, die meinten, man könne ja die Monsterkaraokebar am Görlitzer Park auschecken. Im Taxi dorthin kam dann die Frage auf, wie weit es mit einem schon gekommen sei: mit dem Taxi zum Karaoke! Als Nächstes wähle man FDP! Bevor die Freunde beruhigten, man sei immer noch der Hot Shit, der andere fly mache. Und in den Monsterkabinen drohe kein Gesichtsverlust – schließlich ginge es darum, sich vorbehaltlos dem eigenen Spaßterror hinzugeben. Ganz wie im Stadion. Tatsächlich: Gegrölt wurde noch einiges. Von „China Girl“ über „Just a Gigolo“ bis zu einer Simultanübersetzung von „Nothing Else Matters“ ins Kölsche: Allet andere war ejal. Um fünf stolperten wir aus der Kabine.
Aus der Nacht hinaus, in den Tag hinein. Der folgende Mittag fand ohne A. statt, dem wir neidvoll bescheinigten, sein angenehm unambitioniertes Leben entspannt auf die Reihe zu kriegen. Der Besuch und ich hingegen immer mit einer Hummel im Hinterkopf, die uns zu irgendetwas anstechen musste. Leicht verstrahlt schlichen wir in ein Café am Zionskirchplatz, um uns die letzten Updates zu geben: Arbeit, Finanzen, Liebe. Unrasiert und umgeben von Neokons in cooler Ausgehkleidung frühstückten wir, als ob es keinen Abend gäbe.
Dann kam der Abschied. Für den Besuch sollte bald wieder eine Woche in einer Onlineredaktion beginnen, auf mich wartete mindestens dieser Artikel. Für den Geburtstag von AmSTARt im Coffy’s reichten die Kräfte allerdings nicht mehr. Auf Arte lief „Rhythm is it!“. Das passte eher.
RENÈ HAMANN
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