: Der Geist von Grunewald
Nach der Niederlage gegen Italien glaubt niemand mehr, dass die deutsche Nationalmannschaft Fußballweltmeister wird. Jetzt hilft nur noch eines: ein Mannschaftsquartier mit Siegesfaktor. Kann uns das Schlosshotel Grunewald in Berlin retten – wie 1954 in ähnlich hoffnungsloser Lage das Hotel in Spiez?
VON MARKUS VÖLKER
Das kleine Wunder geschieht. Wir erreichen das „Schlosshotel im Grunewald“ ohne Probleme. Niemand behelligt uns. Wir passieren das schwere Eisentor. Ein Parkplatz ist reserviert. Der Concierge erwartet uns – meinen Kollegen von der NZZ und mich. Das Experiment kann beginnen. Noch kann im Schlosshotel Grunewald jeder Quartier beziehen.
Im Sommer aber wird eine Bannmeile ums Hotel gezogen, die Villa zur Trutzburg ausgebaut werden, zum Hochsicherheitstrakt für Seidenfüße. In der Schutzzone residieren ab dem 2. Juni die deutschen Fußballnationalspieler. Abgeschirmt. Unerreichbar. Weltfern. Wenn die Fußballer im Plüsch des Schlosshotels liegen, dann darf sie kein artfremder Zeitgenosse beim Einigeln stören, nur die 82 Angestellten des Hotels. Der Deutsche Fußball-Bund hat die exklusive Herberge komplett gebucht, für eine Millionensumme. Die Elitekicker wollen sich während der Weltmeisterschaft verstecken, vor Paparazzi, Journalisten und all den Zudringlichkeiten der Presse. Sie tun das im Berliner Westen, in einer Gegend, die gleichfalls vor der Realität zu fliehen scheint. Jürgen Klinsmann, der Bundestrainer, hat es so gewollt.
Zum Einchecken empfängt uns ein Bediensteter mit neckischem Pony. Er begrüßt uns, als hätte er Wochen auf unsere Ankunft gewartet. „Das hier wird für Sie zu einer mission possible“, sagt er gestelzt, „wir machen nichts, was es nicht gibt.“ Er lotst uns zu einem Begrüßungscocktail an die Hotelbar. Das Ambiente erschlägt uns. Schweres, dunkles Eichenholz an den Wänden, ein Porträt von Wilhelm II., riesige Kandelaber, eine Holzdecke, wie sie auch in florentinischen Kirchen zu sehen ist, Putten, Schnörkel, Lyoneser Tapeten, eine Halle, die ausstaffiert ist mit allerlei Zierrat, Vasen, Blumenbuketts, teuren Teppichen und einer Nachmittagsgesellschaft, die in diesem eklektizistischen Gestaltungswahnsinn ihren Tee trinkt. Zwei Stück Kuchen und ein Tässchen für 14 Euro. Das Personal huscht geschäftig an Alabastersäulchen vorbei und tuschelt geheimniskrämerisch. An der Bar versuchen wir unsere Lähmung mit einem Whiskey zu lösen. Lagavulin ist angeblich nicht da. Ein Laphroaig tut es auch. Wir sitzen gut, dennoch könnten wir deplatzierter nicht sein. Vor Nervosität essen wir alle Nüsse im Silberschälchen auf. Die Vorstellung, dass in wenigen Wochen Schweini und Poldi in Adiletten durch diese wilhelminischen Räume schlappen, ist bizarr. Adidas-Trainingsanzüge vor neobarockem Hintergrund, Oli Kahn grüßt auf der „Löwentreppe“ – all das will nicht zusammenpassen. Nur die Vorstellung, wie Gerhard Mayer-Vorfelder, der DFB-Präsident, zum Dauergast in der Kaminbar wird, ist stimmig; MV wird es hier gefallen.
Das „Deluxe“-Zimmer ist an diesem Wochenende zum Schnäppchenpreis zu haben, für 169 Euro. Es ist die billigste Kategorie. Die „Grunewald-Suite“ kostet 1.500, die „Kaiser-Suite“ 3.000 Euro. 52 Zimmer hat das Hotel. Im verwinkelten Flur auf Etage zwei blickt uns der Alte Fritz an. Im Zimmer läuft Klassik-Radio, das Bett ist opulent, allerdings viel zu weich, eine Qual für lädierte Bandscheiben. Hotelmanagerin Uta Felgner heißt in einem Schreiben willkommen, sie zitiert Eichendorff: „Den Sturm nur halt im Zaume / Sonst macht er es zu bunt.“ Wieder viel dunkles Holz, biedermeierliches Mobiliar.
Karl Lagerfeld hat sich in diesem Palais Anfang der 90er-Jahre austoben dürfen. Hier und da ließ er auch ein bisschen Plastik und Rigips einbauen ins Privatpalais aus dem Jahr 1914. Seinerzeit ließ Walter von Pannwitz, der persönliche Anwalt vom Kaiser, dem Vorgänger von Franz Beckenbauer, das schmucke Häuschen für seine Familie erbauen; ihm schwebte ein Abklatsch eines französischen Schlosses vor. Vom Room-Service kann man sich heute einen Hamburger à la Pannwitz kommen lassen, mit Pommes frites für 14 Euro.
Im Zimmer, das gut zwanzig Quadratmeter groß ist, finden sich nicht nur Anschlussbuchsen für die Playstations der Nationalspieler, sondern auch eine kleine Bibliothek mit Werken von Simone de Beauvoir („Alle Menschen sind sterblich“), Gerhard Hauptmann („Buch der Leidenschaft“) und eines gewissen Kurt Ziesel („Der kleine Gott“). Wenn Michael Ballack also Zimmer 22 bezieht, dann sollte er die Lektüre von Gustav Freytag („Die verlorene Handschrift“) unbedingt meiden: „Das Gute blieb nicht gut, und das Böse behielt den Sieg. Was erst zum Segen war, wurde später zum Verderben.“ Ein böses Omen? Damit nicht genug, liegt die aktuelle Ausgabe von Cicero aus, der grinsende Klinsmann auf dem Titel. Das Magazin versucht, Klinsmann zu entlarven, geißelt zum Beispiel dessen Phrasendrescherei: „Stellen Kritiker die Beurteilungskompetenz eines Fernsehtrainers in Frage, spricht Klinsmann von ‚erkenntnisfördernder Distanz‘. Absurde Aussetzer seiner Spieler heißt er ‚notwendige Lernprozesse‘, sichtbare Überforderung ‚enormes Steigerungspotenzial‘ und düsterste Desorientierung ‚hilfreiche Härtetests‘.“ Auch wird davon berichtet, wie der Schwabe einem Verkäufer in Newport Beach, Kalifornien, „Schrauben reindreht“, um ein Armani-Jackett zum Preis von 2.500 Euro günstiger zu bekommen. Dieses brisante Material muss künftig vom Tisch, schließlich geht es um den WM-Sieg, an dem Frau Felgner keinen Zweifel hegt: „Wir werden Weltmeister“, sagt sie, im Finale gegen Brasilien. Nun ja. Eigentlich sollte sie es besser wissen, denn Fußball ist ihr nicht fremd. Für den Berliner Fußball-Verband betreibt sie ein bisschen Lobbying. Dringend nachbessern sollte Frau Felgner im Übrigen beim Fernsehangebot. Videotext ist nicht im Programm, der Pornokanal fehlt auch.
Das Haus wirbt ganz gern mit seinen prominenten Gästen, Aga Khan, Nadja Auermann, früher auch mit Adenauer, Romy Schneider und Peter Ustinov. Im Untergeschoss ist freilich kein Promi zu sehen. Hier breitet sich der „Wellnessbereich“ aus – auf 500 Quadratmetern. Wer nicht weiß, was Wellness ist, der wird im Eingangsbereich aufgeklärt. Kevin Kuranyi könnte bald schon auf dem Weg zum Schwimmbecken lesen: „Wellness ermöglicht Ihnen, Ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen zu stärken, indem Sie sich und Ihren Körper auf die alltäglichen Anforderungen vorbereiten.“ Wir versuchen es im Pool. Nach drei Zügen ist er durchmessen. Wer davon erschöpft ist, kann sich einen Milchshake für neun Euro bringen lassen. Die Sauna ist verwaist. Auch gehen die Uhren darin anders. Sie laufen auf Sommerzeit. Die Sanduhr ist besonders tückisch. Nach fünf Minuten bleibt sie stehen. Wer ihr vertraut, könnte zum Hitzeopfer werden. Wer dem entronnen ist, kann seine Fußreflexzonen, bei Fußballern ein sehr sensibler Bereich, massieren lassen. Kostenpunkt: schlappe 82 Euro. Wir stolpern versehentlich noch kurz in einen Nebenraum, wo eine junge Schöne unter einer Creme-Fettschicht meditiert. Dann machen wir uns fertig fürs Abendessen im Hotelrestaurant „Vivaldi“.
Der DFB bringt seine Köche mit, will aber auch auf die Künste von Jörg Behrend vertrauen, dem Küchenchef. Das Menü übersteigt den Spesenrahmen dieser Zeitung, deswegen belassen wir es bei einem Hauptgericht, „Zweierlei vom Müritzer Milchlamm“ (38 Euro), einer sehr übersichtlichen Portion, auf die man einen halben Liter Soße gießen kann – wenn man mag. Der Sommelier, dem Vernehmen nach ein Meister seines Fachs, begutachtet uns kurz und entscheidet sich, jegliche Hilfestellung zu verweigern. Von ihm offenbar als Undercoverrechercheure entlarvt, wählen wir den billigsten Fusel aus der Weinkarte, einen Blaufränkischen aus dem Burgenland.
Das Essen ist Beklemmung pur, an den Nebentischen krampfen sich Pärchen und zwei allein reisende Herren durch den Abend. Das Personal überwacht jede Regung der Gäste und scharwenzelt ohne Pause um die Rundtische. Der Kollege versucht, die Situation aufzulockern, und gibt eine Oli-Kahn-Anekdote zum Besten: Der Keeper, schwer betrunken, rennt halb nackt durch ein Münchner Etablissement und schreit wie von der Tarantel gestochen: „Ich fick’ euch alle!“ Sehr schön, aber wir sind froh, aus dem Neopompschuppen herauszukommen – auf die Straßen des Villenviertels. Die Gegend ist tot. Nur ein Boxer ist unterwegs, er zieht einen Grunewalder hinter sich her. Die Berliner Morgenpost hat in einer Umfrage herausgefunden, dass sich die Hotelanwohner auf die Deutschen freuen – aus zwei Gründen: „Der Westen Berlins wird wieder aufgewertet.“ Und: „Dann gibt es hoffentlich weniger Einbrüche.“
Es wäre nun an der Zeit, das Personal zu befragen. Sie dürfen nicht offen reden. Sie müssen diskret sein, die Dienstleister im Schloss. Barkeeper Ogün ist denn auch sehr maulfaul. „Die sind ja nur zum Schlafen hier, die haben viel zu tun“, sagt er. Viel „Softes“ werde er dann wohl ausschenken müssen. „Das wird sicherlich eine harte Zeit“, sagt eine Zugehfrau. „Wenn die so spielen wie zuletzt, dann wird das kein Vergnügen“, glaubt eine Kellnerin und lächelt so unverbindlich, wie es nur geht. Die Hotelcrew wird es dem DFB-Tross behaglich machen, ganz egal, ob das Land trunken ist vor Glück oder der Lynchmob die Bannmeile durchbricht. Im Schlosshotel fallen Klinsmann, Kuranyi und Co auf jeden Fall weich – auf ein samtenes Sofa von Karl Lagerfeld.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen