: Der Pulverhäuschenraub
Die Wahrheit-Woche der Leichen im Keller: Mein peinlichstes Verbrechen
Wütend warf die Kellnerin uns aus der „Röhre“. Draußen vor dem Lokal stießen wir mit den halbvollen Bierkrügen an, die wir ihr nicht hatten zurückgeben wollen, obwohl Sperrstunde war. Und wohin jetzt? Keine Ahnung. Wir taperten hinaus in die neblige Nacht.
Aus dem Nebel tauchte das Pulverhäuschen auf. Unscheinbar ragte der weiß getünchte Backsteinbau zwischen den Bäumen im Schlosspark hervor. Warum es Pulverhäuschen hieß, wussten wir nicht, auch nicht, dass es bereits 1663 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Das Pulverhäuschen lag rund 50 Meter abseits von der Schlossmauer und gehörte inzwischen zum Stadttheater, das im Schloss untergebracht war.
Erst vor kurzem waren wir aus einer Aufführung des Theaters hinausbefördert worden – „Antigone“ von Sophokles. Wir hatten vorher zu viert einen Kasten Bier und eine Flasche Korn leer getrunken. Einem Freund war das gar nicht gut bekommen, wir mussten ihn in der letzten Reihe absetzen. Dort verschnarchte er das Drama und wäre kaum weiter aufgefallen, hätte er sich nicht plötzlich lauthals übergeben. Da sein Kopf auf die Brust gesunken war, spuckte er seinen Mageninhalt oben in den Mantel hinein.
Dem Hauptdarsteller gefiel diese Form der Kritik gar nicht. Von der Bühne herab herrschte uns König Kreon an: „Ihr könnt jetzt gehen! Und nehmt den da mit!“ Unter dem frenetischen Beifall des Publikums versuchten wir unseren Saufkumpan aus seinem Sitz zu hieven. Mit einer Art Erste-Hilfe-Griff schob ich meine Hände von hinten unter seine verschränkten Arme und zog ihn ruckartig hoch. Leider schwappte nun die Kotze wieder oben aus dem Mantel heraus. Eine Ambulanz brachte den Leblosen schließlich auf die Intensivstation, wir jedoch erhielten lebenslanges Hausverbot im Schlosstheater.
„Wir müssen da rein!“, beschloss ich, und die anderen nickten. Langsam umrundeten wir das gedrungene Backsteinhaus, das uns aus seinen vergitterten Fenstern misstrauisch beäugte, wie es wahrscheinlich seit Jahrhunderten alle Eroberer, die in die Stadt eingefallen waren, abschätzig gemustert hatte.
Ich gab das Genie des Coups: „Durchs Dach kommen wir rein!“ Bernd Berg war nicht nur der Gelenkigste von uns dreien, sondern auch der Klügste, und gerade deshalb zog ihn jede Dummheit an. Später geriet er in Berlin auf die schiefe Bahn und tauchte für immer ab. Jetzt ließ er uns eine Räuberleiter bilden und kraxelte aufs Dach. Dann begann er die Dachpfannen herauszurupfen, die mit einem dumpfen Ploppen auf dem Rasen landeten. Doch weit kam er nicht. An der massiven Balkendecke war Endstation.
Ulrich Gansekow inspizierte bereits ein Fenster. Gansekow hatte ein Elefantengedächtnis und war mitunter dünnhäutig wie einer der grauen Riesen. Am besten ließ man ihn einfach nur machen, war er doch auch der Kräftigste von uns. Schon zog und zerrte er an dem Gitter aus Eisen, das kurz darauf mit einem quietschenden Seufzer nachgab. Er hatte wahrhaftig das Gitter aus der Wand gerissen. Aber es nutzte nichts. „Die Scheibe einschlagen ist zu laut!“, fluchte ich und ging hinüber zu der Eingangstür. Probeweise drückte ich die Klinke und … – die Tür sprang auf. Sie war überhaupt nicht verschlossen gewesen. Wir sahen uns an: „Theaterleute!“
Munition oder gar Sprengstoff wurden im Pulverhäuschen längst nicht mehr gelagert. Stattdessen lag überall Gerümpel verstreut. Das einzig wertvolle Stück war ein Schallplattenspieler, ein gewaltiges und veraltetes Gerät mit zwei klobigen Lautsprecherboxen. Erst jetzt wurde uns bewusst, das wir bei der genialen Planung unseres Coups nicht bedacht hatten, wozu das Ganze eigentlich gut war. Aber ohne Beute wollten wir den Tatort nach all der Mühe auch wieder nicht verlassen, und so packten wir uns die drei schwergewichtigen Teile auf die Schultern.
Die nächtlichen Straßen waren menschenleer, und als ein Polizeiwagen in der Ferne herumkurvte, drückten wir uns in einen Hauseingang. Stöhnend schleppten wir unser Diebesgut weiter, aber langsam gingen uns die Kräfte aus. Schweißgebadet stoppten wir endlich an einem Abbruchschuppen, in dessen hinterster Ecke wir die heiße Ware entsorgten und mit Ziegeln notdürftig bedeckten. Von der Anstrengung ernüchtert, verabschiedeten wir uns mit verlegenem Lächeln in unterschiedliche Richtungen. Insgeheim hofften wir, dass das Abbruchunternehmen alle Spuren unseres Verbrechens beseitigen würde.
Am nächsten Morgen war der dreiste Raubzug das Stadtgespräch. Der Intendant des Schlosstheaters gab sich empört über den Angriff wider die freien Künste. Der „immense materielle Schaden“ gehe in die Tausende, entrüstete er sich, denn die Gewaltverbrecher hätten sowohl eine wertvolle Hifi-Anlage als auch eine hochmoderne und enorm teure Videoausrüstung entwendet. Zum Glück komme eine Versicherung für den gewaltigen Schaden auf, erklärte er. Und so hätten eigentlich alle Beteiligten glücklich und zufrieden sein können über den glimpflichen Ausgang unserer nächtlichen Unternehmung, wären da nicht die Ordnungshüter gewesen. Wenige Tage nach dem Bruch bekam ich einen Anruf, der mir eine schlaflose Nacht bescheren sollte: „Morgen früh um zehn auf dem Präsidium!“, ordnete ein Beamter mein Erscheinen an. Ich wälzte mich im Bett hin und her, gequält von der Frage, ob ich besser nach Berlin oder nach Amsterdam flüchten sollte.
Ich wurde in einen Verhörraum geführt und musste warten, allein, lange, bange Minuten. Der alte Trick, um Schwerstkriminelle wie mich mürbe zu machen. Der Kommissar war ein knorriger alter Hase. In fünf Minuten würde er mich zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetscht haben. Wo ich denn am Mittwochabend gewesen sei, begann er gelangweilt das Verhör. „In der Stadt und dann zu Hause“, antwortete ich knapp. Warum ich denn so zittern würde, verschärfte der Bulle plötzlich die Gangart, und erst jetzt bemerkte ich, dass ich tatsächlich am ganzen Körper zitterte. Eingeschüchtert antwortete ich: „Ja, wer würde denn nicht zittern, wenn er zur Polizei vorgeladen wird?“ Das herbe Gesicht des Cops zeigte ein deutliches Gefühl der Genugtuung. Dann holte er ohne Warnung zu einem härteren Schlag aus und knallte ein silberfarbenes Etui auf den Tisch: „Und was ist das?“, schnauzte er mich an. Ich wusste sofort, was los war. Ich hatte es gar nicht vermisst, weil ich es nur selten benutzte. Aber wie blöd war ich eigentlich? Ich musste es in der Nacht verloren haben: mein Adressbuch. „Es war gar nicht so einfach, auf Sie zu kommen“, brummte der Kommissar mürrisch. Er hatte drei Tage und etliche Telefonate quer durch Deutschland gebraucht, um mich ausfindig zu machen.
Mir drehte sich alles. Wie peinlich! All die Telefonate mit meinen Freunden, schoss es mir durch den Kopf. Dann aber muss so etwas wie ein Ruck durch mich gegangen sein, denn ich legte los und log die Engel vom Himmel herab. Im Brustton tiefster Überzeugung erzählte ich dem Kommissar eine hanebüchene Geschichte von irgendwelchen Feinden, die mir übel hätten mitspielen wollen. Sie hätten mein Adressbuch entwendet und am Tatort hinterlegt, um mich zu belasten. Warum auch immer, die Geschichte zog. Ich wand meinen Hals aus der Schlinge. Der Kommissar stand auf und bedankte sich auch noch bei mir für mein Verständnis. Ich durfte gehen.
Ich habe nie wieder etwas über den Fall gehört, wo die Beute geblieben ist und warum die Ermittlungen im Sand verlaufen sind. Heute kann ich nur hoffen, dass der Pulverhäuschenraub verjährt ist. Sonst werde ich wohl demnächst in Handschellen abgeführt. Eigentlich hätte ich es auch verdient: Herr Richter, geben Sie mir bitte zehn Jahre wegen Dummheit, ach, wir wollen ja nicht kleinlich sein, nochmal zehn für Peinlichkeit obendrauf. MICHAEL RINGEL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen