: Von einer Sekunde auf die andere
From One Second to the Next“ heißt der Dokumentarfilm von Werner Herzog, den man sich auf Youtube ansehen kann – und ob die NSA das mitbekommt, ist hier mal wirklich nicht das Thema. Es geht um Unfälle, die von SMS-schreibenden Autofahrern verursacht wurden. Es geht um Sekunden, die über Leben entscheiden. Hätte eine Frau nicht „Ich bin unterwegs“ in ihr Handy getippt, dann hätte sie kein Kind überfahren, es nicht an den Rollstuhl gefesselt, hätte nicht Leid über einen anderen Menschen, über dessen Familie, aber auch nicht über sich selbst und die eigenen Leute gebracht.
Was mag in Onur U. vorgegangen sein, als am Donnerstag in Berlin über ihn ein Urteil erging, die juristische Konsequenz einer Monate zurückliegenden Handlung, die zum Tod des jungen Jonny K. führte? „Feixt. Grinst“, schreibt Anne Losensky in der Springer-Zeitung B.Z. Der Artikel ist so mies, dass man nicht versteht, warum der taz-Kollege Sebastian Heiser derart gescholten wurde, als er Ende Juli die kommende Arbeitslosigkeit mancher Bild- und B.Z.-Journalisten im Zuge der Profitmaximierung des Springer-Verlags begrüßte – und zwar nicht zuletzt als Chance zur Resozialisierung für Leute, die ihren Charakter schon zu lange an der Garderobe haben hängen lassen.
Womit wir bei Günter Verheugen sind. Während sich das Gesicht eines jungen Menschen, dem gerade klar wird, dass er sein Leben versenkt hat, spontan verzerrt, reagiert der Politbürokrat auf Vorwürfe stilsicher mit einem pöbelnden Dementi, redet von „Verleumdung“, von einer „Riesensauerei“ und „wissenschaftlicher Schlamperei“. Er könne ausschließen, dass er sich „jemals“ zum Thema Pädophilie geäußert habe, also auch nicht bei einer Veranstaltung am 12. Juli 1980 in der Bonner Beethovenhalle.
Onur U. konnte für einen Vorgang, der nicht mal ein Jahr zurückliegt, seine Beteiligung ausschließen – er habe Jonny K. nicht geschlagen. Günter Verheugen kann etwas ausschließen, das 33 Jahre zurückliegt. Da kriegt sogar ein besonnener Wissenschaftler wie Franz Walter das Kotzen. Weder bei Spiegel Online noch in einem Beitrag für die FAZ, der einen Zwischenstand von Walters Untersuchung zum Einfluss von Gruppen mit pädophilen Forderungen innerhalb der Grünen wiedergibt, hatten er und sein Team vom Göttinger Institut für Demokratieforschung behauptet, der damalige FDP-Generalsekretär Verheugen sei 1980 ein Befürworter der Pädophilie gewesen. Belegt ist aber, dass die damalige Pädophilenmafia, darunter die diese Woche zurückgetretene FDP-Bundestagskandidatin Dagmar Döring, aus Verheugens Stellungnahme zur Reform der Paragrafen 174 und 176 StGB Hoffnungen schöpfte und ihrer Klientel die Wahl der FDP empfahl.
Und jetzt einfach mal: Erschrecken? Schweigen?
Nein. Es ist Wahlkampf, und da gibt es keine Gnade, keinen Respekt. Was den angeht, ist die SPD allein mit sich selbst beschäftigt. Müntefering mag Nahles nicht und schießt deswegen über die Bande „Steinbrück alleingelassen“ in der Zeit gegen die Wahlkampfmanagerin. Ob das zielführend ist? In Europas Krisenländern interessiert das deutsche Spektakel schon mal auf keinen Fall. Man hätte da gern weniger Windkraft und mehr Antworten auf drängendere Probleme. Aber dieses Thema ist hier nur den Anfängern von der AfD einen Wahlkampf wert.
Aber ist das nicht auch gut, wenn eine Gesellschaft nicht völlig polarisiert ist? Wenn die Volksparteien jederzeit zusammen eine Regierung bilden können? In Italien träumt man davon, vor allem der greise Staatspräsident Giorgio Napolitano. Aber wird er so weit gehen, den verurteilten Berlusconi zu begnadigen, weil sonst das Bündnis zwischen PD (Linke) und PdL (Rechte) aufgekündigt werden und im Anschluss der Bürgerkrieg ausbrechen könnte?
Paolo Flores d’Arcais, eine der renommierten Stimmen der demokratischen Linken in Italien, nennt jeden Versuch, den „Kriminellen aus Arcore“ weiter in der Politik zu halten, schlicht „Putsch“. Wird Napolitano auf ihn hören? Wird er seinen Teil dazu beitragen, dass Italien endlich aus seinem Albtraum erwachen kann? Flores d’Arcais wäre kein Denker aus dem Land Machiavellis, wenn er nicht schon die nächste schlimme Wendung voraussähe: Ein Teil der gerade noch pöbelnd Berlusconi verteidigenden Rechten macht sich schon warm, sich rechtzeitig abzusetzen, um mit dem PD weiterzuregieren.
„Don’t text and drive“ ist der Schlussappell in Werner Herzogs Film, dem man sich kaum entziehen kann. Wenn man dann wieder auf die Nachrichtenseiten klickt, in das Berliner Landgericht und zu den kaputten Seelen missbrauchter Kinder und noch nach Ägypten – übersetzt sich das am besten mit: Haltet ein.
AMBROS WAIBEL
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