: Lehmann ist auch Kahn
Wie ich lernte, Oliver Kahn zu lieben (I): Selbstverständlich „mag“ niemand den Fußball-Nationaltorhüter Kahn als Mensch. Doch die notorischen Kahn-oder-Lehmann-Fans sind anachronistische Verfechter des zwanghaften Zwei-Linien-Denkens. So oder so oder anders: Im deutschen Tor steht immer der Titan
Ist Fußball die Spielwiese des neuen Bürgertums? Ist ästhetischer Individualismus (also für Brasilien sein) out? Muss man nicht gerade als Linker FÜR Deutschland sein? Die taz-Serie zur mentalen Vorbereitung auf die Fußball-WM: Wie ich lernte, Oliver Kahn zu lieben.
von KLAUS THEWELEIT
„It’s a bird!“ „It’s a plane!“ „It’s Superman!“
Ein Typ in blauem Trikot schießt über den Himmel, überspringt ein paar Wolkenkratzer, hängt im Wettlauf einen Schnellzug ab, sein roter Umhang glüht wie ein Kometenschweif: So eröffnet jeder der rund zehnminütigen Superman-Cartoons aus den Max-Fleischer Studios Anfang der 40er-Jahre. Es war Krieg, meist musste Superman etwas gefährlich Japanisches aus dem Weg räumen. Ein schlitzäugiger Gangster stiehlt eine B 52 und steuert den Bomber gegen New York. Superman fängt ihn ab, mit bloßen Händen, kurz über dem Broadway. Kein Torerfolg für fiese Japaner in America 1942.
In Deutschland 2000ff hat der Typ einen anderen Namen: „Ein Aeroplan! ’s ist Olli Kahn!“ „Der TITAN.“ Kahn Superhüter, mit vorgereckter Faust durch den Strafraum segelnd, programmiert auf die Kontrolle der Kugel, die SUPERMAN/Clark Kent auch mal in Gestalt von Riesenkometen abwehren muss. Kahn mit Umhang und großem S auf der Brust auf den Titelseiten des Boulevard. Unverletzlich, auch wenn ihm dort sein gar nicht schüchtern-Clark-Kent-haftes Sexualverhalten aufgerechnet wird. Natürlich „mag“ niemand den Kerl, als Mann und Mensch. Was gar nichts über ihn sagt. TITAN eben, aber ohne eine Lois Lane.
In einem der Filme bekommt Superman einen Doppelgänger. Er klaut im Auftrag eines New Yorker Schlitzauges Juwelen und raubt Banken aus. Das ist Jens Lehmann, fußball-mythologisch. Unduldbar, dass so ein Jens die öffentlich-blaue Weste befleckt. Superman stellt das falsche Double und liest ihm die Leviten. Den schlitzäugigen Auftraggeber des Doppelgängers kostet dies das (Comic-)Leben. Jens Lehmann aber , sein Konkurrent um den Platz im deutschen WM-Tor, lebt, untötbar bei Arsenal. Wir haben einen Doppel-Titan.
TITAN ist auch bei Dittsche, in Ingos Imbiss in HH, Sonntagabend halb elf, WDR. Uwe Seeler schlurft herein. „Das ’n Titan!“, flüstert Dittsche, „der reine Titan!“ Dittsche trennt die Zweibeiner in Menschen (Biertrinker) und Titanen. Käme Jens Lehmann zur Tür rein: Titan. (Ollie sowieso.) Titan aber auch hinter der Theke: Ingo sieht aus wie Uli Stein in seinen besten Jahren, Ex-Torwart-Titan des HSV. Gescheitert an Titan Schumacher in Mexiko 1986. Ingo/Uli hält titanisch auf saubere Theke, wo Dittsche sein Bier hinverschüttet (darf nicht mehr Jever sein. Verboten!), Titan-Bier. „Das perlt.“
Seit Schumacher perlen Spieler am Titan-Wart ab wie Sprudelbläschen und landen in der Klinik. „Gefahr beseitigt.“ Programm: Rein in die Brandung. Spieler abperlen lassen, Ball bergen. Die Welle verläuft sich. Titanische Versuchung (böswillig: teutonisch).
Halbzeit: Wenn es um das beliebte Spiel mit den Hass- oder Kultobjekten geht, schrumpft das Hirn aller Beteiligten in der Regel auf zwei Makrozellen mit dem Output: „Titan“ oder „Arsch der Nation“. „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der größte Ollie im Land“, worauf die zwistiftenden Spiegel antworten: „Herr Ollie, Sie sind der Größte hier, aber der Jens hinter den Bergen, bei den 70 Millionen Zwergen, ist x-mal so Olli wie Ihr.“
Wie soll man da vernünftig reden? Geht das? Ja, etwa so: „Lehmann & Kahn! Zusammen seid ihr das beste Olli-Duo der Welt – die fantastischen Zwei. Leicht ausweitbar zur Fantastic Four. In Supertorhütern bringt Deutschland immer mindestens vier Quadrathelden zwischen die Pfosten (ins „Panel“).
Nein, eher zwölf als zwei. Wo andere oft nicht mal einen Einzigen haben. Deutschland ist Keeper-Country schlechthin. Wie kann man solchen Überfluss missbrauchen zu elendem Zickenkrieg oder auch Terminator-Fight um und von und mit Lehmann/Kahn. Ihr seid nicht Schwarzenegger-einsam! Auch Enke segelt superb durch die Strafräume, der Rost in Schalke, der rosa Riese Wiese in Bremen, Supermensch Jentzsch in WOB, Hildebrand und Hain, Koch wie Wache, Butt und Fiedler, und noch einige mehr, die nicht ganz so super sind und doch im Nationaltor stünden von 75 Prozent der global kickenden Nationen, wären sie in deren Grenzen geboren.
Blick in die Notenlisten des kicker. Das Bundesligaprotokoll bewertet die Leistungen aller Profis über die gesamte Saison, wobei selbst Spitzenspieler so bei 3,2 landen und nur eine Hand voll bei einer 2 vorm Komma (Klose, Frings, Lucio, Borowski, Sagnol). Es führt fast 10 Keeper mit 2er-Noten. Eine Top Twenty der Profikicker würde von den Keepern dominiert. Ungleiche Kriterien oder die Keeper sind tatsächlich besser als der Rest.
Wie unsinnig die Superkonkurrenz der Superhüter! Zwar ist mir der Lehmann („der seine Kinder morgens zur Schule bringt“) persönlich etwas lieber als der Kahn-(Gorilla), aber das sind unangebrachte Präferenzen. Die notorischen Kahn-gegen-Lehmann- oder Lehmann-gegen-Kahn-Fans sind auf dem Holzweg. Überrestler des zwanghaften Zwei-Linien-Denkens, wovon eine die „richtige“ sein muss.
Is’ aber nich’. Auch nicht „linkere“ oder „rechtere“ Titanen. Seit Deutschlands erstem Fußballgott Toni Turek (der seine Schwächen hatte) sind alle deutschen Keeper Weltmeister, immer schon. Und also im Besitz des flügelverleihenden Druidentrunks. Wir könnten eine Mannschaft aus elf Torhütern bei einer WM ins Rennen schicken, in Blau mit rotem Umhang: Mit dreimal 0:0 (Butt & Co.) womöglich weiter. Absurd, aber war, titanisch!
Und der Ball ist mit ihnen (wo sie ihn nicht abschrecken). Er war total mit Olli zum Beispiel beim 1:0 gegen die USA 2002 in Südkorea. Wie verzaubert flogen die Bälle dem Titanen in die Arme, oder aber wie magnetisch abgelenkt am Tor vorbei (oder gegen Schneiders Hand auf der Torlinie). Der Ball respektierte das S auf dem Trikot und überschritt die Linie nicht. Statt 1:5 – ein 1:0 nächste Runde.
Der Ball ist nicht mit ihnen, wo Titanen sich befehden oder selbst zu hart aufgeblasen sind. Ob Comic oder mythologische Untergänge: Titanen besiegen sich immer selbst, durch Dummheit, oder gegenseitig, durch rohe Kraft. Titan im Finale 2002 war leicht lädiert an Rücken und Hand, und viel zu hart aufgeblasen. Der Ball verweigerte den Respekt. Er prallte ab, statt sich in die Arme des Superhelden zu schmiegen. Gegen Real bald danach kam Titan nicht schnell genug runter ins linke Eck. Ball durch – ausgeschieden.
Superheld Jens kochte und lud (für die Presse) durch. Der Ball mag so was nicht. Unbesiegt in 49 Spielen in Folge in der Premier League verspringt Lehmann der Ball in der Champions League zweimal gegen Chelsea: ausgeschieden.
Oder auch Schumachers Fehlgriffe, Finale 86 in Mexiko. Titan S. war so aufgeblasen, dass er selber falsch dotzte. Weil er den Ingo/Uli von hinter der Theke verschluckt hatte statt des Biers. Wo hingegen Andreas Köpke und Bodo Illgner problemlos Europa- bzw. Weltmeister wurden, weil ohne Titanenkrieg. Besagte Bälle gegen Kahn hätte übrigens jeder deutsche Co-Titan gehalten; vielleicht sogar ich, in meiner besten Titanenzeit, so mit 26.
Sehr riskant also, wenn die fliegenden Superheros sich ausliefern an die falschen Arenen, sich in die kryptonitische Flugbahn spucken lassen von gierigen TV-Finken oder von Wiegel-Agenten der römisch-hanseatischen Cäsarenblätter B & BamS, betrieben von den Schlitzaugen des pressemäßig so unvergleichlich gebeutelten Hamburg.
Zuletzt in Italien spielte Lehmann, am Mittwoch in Dortmund gegen die USA soll Kahn spielen. Ganz gleich, wer drin steht im deutschen Tor, er wird verlässlich titanisch sein. „It’s a bird!“ „It’s a plane!“ „It’s Jens!!“
Sollte also JL im Tor stehen, im WM-Eröffnungsspiel am 9.Juni in München – er wäre auch Kahn. Es ist immer Titan Kahn, im Jahr 2006. Das Publikum in München, das ja kein Münchner Publikum ist im Eröffnungsspiel, könnte das begreifen. Man pfeift Titan nicht aus bei der Eröffnung, gegen Costa Rica nicht oder gegen sonst wen, nicht mal Jens Lehmann. Vielmehr wird die Mannschaft ihn bewundern, gleich wer er ist, und die Null sollte stehn. Die Kahn unvergleichlich vornwegträgt im Superheldennamen: O-lli!!
KLAUS THEWELEIT, 63, ist Soziologe und Fußballphilosoph. In „Tor zur Welt“ (2004) postulierte er den Fußball als Spielwiese für politische Menschen zwischen den Revolutionen. Zuletzt erschienen: „Friendly Fire. Deadline-Texte“, Stroemfeld
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