: „Es herrscht ein Gefühl der Ohnmacht“
In Israel wird kommenden Dienstag gewählt. Wer die Vertreter einer Verhandlungslösung mit den Palästinensern wählen will, der sucht vergebens. Die Linke hat sich faktisch aufgelöst, sagt die Schriftstellerin Yael Hedaya
taz: Frau Hedaya, Sie bezeichnen sich als links. Was bedeutet das heute in Israel?
Yael Hedaya: Das weiß ich schon nicht mehr.
Wem haben Sie bei den letzten Wahlen Ihre Stimme gegeben?
Meretz – zu meiner großen Schande.
Warum ist eine Schande, die säkulare Linke zu Wählen?
Sehen Sie sich an, was aus denen geworden ist. Sie sind verschwunden. Es gibt sie nicht mehr. Der Wahlkampf kommt mir vor, wie die Kampagne einer virtuellen Partei.
Was ist da passiert?
Ich habe keine Ahnung. Ehrlich. Die Linke ist zusammengebrochen. Ich weiß wirklich nicht, ob das eigenes Verschulden ist oder Folge der Entwicklungen. Aber es ist ja nicht nur Meretz. Es gibt überhaupt keine einzige normale Partei mehr. Was ist das, diese neue Partei, „Kadima“, auf Deutsch Vorwärts? Vorwärts? Wohin? Und überhaupt, wer ist deren Chef Ehud Olmert? Der soll Regierungschef werden? Ja, der wird Regierungschef, das ist die Tragödie.
Was überrascht Sie so?
Ich habe das Gefühl, das niemand, auch nicht die Politiker, inklusive Olmert, noch über eine klare politische Haltung verfügen. Jeder will Regierungschef werden oder einen Posten haben, und jeder ist bereit, sich entsprechend anzupassen. Es ist doch klar: Wenn Likud-Chef Benjamin Netanjahu, Gott behüte, die Wahlen gewinnen sollte, dann wird er mit dem Vorsitzenden der Arbeitspartei, Amir Peretz, zusammengehen. Sie verteilen die Posten unter sich und geben Olmert auch noch was ab. Wozu also überhaupt zu den Wahlen gehen? Irgendwie wiederholt sich alles, die gleiche Korruption, die gleichen Leute – alles „recycled“. Selbst Olmert erscheint wie ein wieder aufbereiteter Politiker.
Keiner kommt mit einer neuen Botschaft?
Ich fahre durch die Straßen und sehe diese Wahlplakate. Da ist Amir Peretz : „Die Armut bekämpfen und den Terror besiegen“. Zum Totlachen. Als ob er wirklich die Armut bekämpfen könnte. Armut und Terror – wir regeln das mal eben. Bis heute ist es keinem gelungen, weder das eine noch das andere abzuschaffen. Peretz macht beides – Hokuspokus. Die Worte werden zunehmend leerer. Kein Mensch glaubt noch daran. Wenn sein Slogan wäre: „Am Hintern kratzen und auf dem Kopf stehen“, dann hätte das ungefähr die gleiche Bedeutung. Das eine ist so unsinnig wie das andere.
Ist das der Grund für das zunehmende Desinteresse der Bevölkerung? Nicht die Verzweiflung über das Scheitern der Verhandlungen mit den Palästinensern, sondern ganz einfach Langeweile?
Ich glaube beides. Das Gefühl herrscht, dass nichts eine Rolle spielt. Wir können ohnehin nichts ausrichten.
Beeinflusst der Wahlsieg der radikalen Hamas bei den Palästinensern Ihr Lebens- und Sicherheitsgefühl?
Ich muss sagen (lacht), eigentlich nicht. Ich meine, natürlich ist es eine Katastrophe, dass die Hamas gewählt wurde, schrecklich. Nicht nur für uns, auch für die Palästinenser. Aber dass es mich beeinflusst? Nicht wirklich.
Wie kommt es, dass das Interesse füreinander abnimmt, nicht nur, dass es die Israelis nicht mehr interessiert, was hinter der Mauer in den besetzten Gebieten oder im Gaza-Streifen vor sich geht? Der eigene Nachbar scheint heute weniger zu interessieren als früher.
Israel wird immer stärker zu einem westlichen Land. Vor 20 Jahren konnte man sagen, dass das Leben in Israel schwer ist, aber wenn du hier auf der Straße liegst, dann kümmert sich jemand um dich, bringt dir Wasser. Das ist heute nicht mehr so. Die ganzen Obdachlosen in Tel Aviv. Ich halte heute schon nicht mehr an, wenn mir jemand auf der Straße ein Zeichen gibt. Einfach weil ich Angst habe. Vielleicht ist das ein Terrorist? Davon abgesehen, gibt es auch die Haltung: Warum soll ich helfen? Mir hilft schließlich auch keiner.
Warum ist das so?
Ich glaube, dass das zum einen ein ziemlich normaler Prozess einer westlichen Gesellschaft ist, diese Entfremdung. Auch ist es wirklich Folge unserer Situation. Das Stressniveau, das wir aushalten müssen, ist so groß, dass wir für Empathie und Interesse keinen Platz mehr haben.
Was haben Sie empfunden, als der Premier Ariel Scharon Anfang Januar einen Schlaganfall erlitt und anschließend in ein tiefes Koma fiel?
Ich glaube nicht, dass irgendjemand sein Leben so beenden sollte, was nicht heißt, dass ich ihn besonders schätzte. Er hat furchtbare Verbrechen begangen. Die Leute bemitleiden ihn jetzt und vergessen seinen Auftritt im Libanon und auf dem Tempelberg. Aber wenn man Scharon mit Olmert oder Netanjahu vergleicht, dann glaube ich schon, dass dieser machtgierige und gefährliche Mann über eine grundlegende Integrität verfügt, an denen es den anderen mangelt.
Dann hätten Sie ihn Olmert vorgezogen?
Wir kommen vom Regen in die Traufe, aber ja, vielleicht schon. Sehen Sie, wohin wir geraten sind? Hier ist eine Linke, die offen zugibt, Scharon vorzuziehen.
INTERVIEW: SUSANNE KNAUL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen