AMBROS WAIBEL ÜBER BLICKEEIN STREIFZUG DURCHS POLITISCHE SPEKTRUM BERLINS, KINDGERECHT AUFBEREITET: Unterwegs zur Wahl
Manchmal, wenn die Kinder eingeschlafen sind und ich auf meinem Bett liege und lese, dann stört sie mich: die Musik, die aus dem nahe gelegenen Veranstaltungssaal herüberdringt.
Dabei ist sie gar nicht besonders laut; und es hat auch überhaupt keinen Sinn, dass der eine Teil von mir sich aufregt, wo der andere Teil sowieso niemals bei der Polizei anrufen würde, um sich zu beschweren. Denn dieser bessere Teil von mir weiß, dass jener Ärger über das Außen nur der Ausdruck irgendeines Zorns in meinem Innern ist – zum Beispiel darüber, dass die Kinder wieder zu spät eingeschlafen sind, ich sie deswegen am Morgen aus dem Bett peitschen muss und mich ihre Lehrer zu einem Gespräch über die Auswirkungen von Schlafentzug auf den Lernerfolg bitten werden.
Als ich so mit mir selbst wieder eins war, las ich aber nicht einfach weiter oder schlief ein, sondern hörte hin, was in die Wohnung wehte: Es waren Parolen, die ein Einpeitscher vorgab und die von hellen Frauenstimmen aufgenommen wurden. Das ergab einen guten Beat, und der Rhythmus wiegte mich in den Schlaf, mein letzter Gedanke war tatsächlich sowas wie: coole Party.
Ein paar Tage später schlenderte ich mit meinen Kindern die Hauptstraße der Nachbarschaft entlang. Da zog eine Demonstration vorbei. Das gab Anlass, zumindest den Versuch zu starten, die aktuelle Lage im Nahen Osten kindgerecht zu erklären. An der Spitze des Zuges marschierte nämlich eine Menge von kopftuchtragenden Frauen, und auf einem Autodach ihnen voran stand – der Einpeitscher! Und nun verstand ich: „Nieder mit dem Militär!“, „Alle Diktatoren raus!“, „1, 2, 3, 4 – das Volk sind wir!“, „9, 10, Assad muss gehen!“, „Mursi ist der Präsident!“, „Stoppt das Massaker!“
Das waren meine Schlaflieder gewesen! Musste mich das beunruhigen? Oder musste es die Tatsache, dass die Ordner einen Mann mit der schwarzen Salafistenfahne sofort aus dem Zug entfernten, mit dem Hinweis, die Fahne diskreditiere auf deutschen Straßen den „Arabischen Frühling“– man könne sie sich ja zu Hause aufhängen?
Schließlich zogen wir weiter, die Kinder mit glockenhellen Stimmen „Stoppt das Massaker“ wie einen neuen Peter-Fox-Refrain skandierend, bis wir an einen Platz kamen, wo die Partei „Alternative für Deutschland“ eine Kundgebung gegen den Euro und gegen ‚linken Terror‘ durchführte. Ein bedröhnter Passant sagte den tiefen Satz: „Das sind keine Nazis, da sind auch Türken dabei“ – und so waren auch hier einige Erläuterungen seitens des Erziehungsberechtigten zur Eurokrise und zum Rechtspopulismus angebracht, denn jugendlich schwarzgekleidete Demonstranten sahen natürlich mal wieder alles ganz anders. Sie riefen: „Haut ab!“ und „Halt die Fresse!“
Auch das nahmen meine Kinder begeistert auf. Und so wusste ich mal wieder, warum ich so sehr gern mitten im großen Lärm lebe, im Zentrum der Hauptstadt dieses Landes: Den großen, den wirklich wichtigen Themen kann man sich hier einfach nicht entziehen, schon gar nicht als Vater. Und damit gebe ich ab zur wahl.taz.
DIE KOLUMNE MELDET SICH WIEDER NACH DER BUNDESTAGSWAHL. DIESES WAHLVERSPRECHEN WIRD GEHALTEN!
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