: „Ein Fenster zu sehen den Baum“
SÜDEN Wie Politik bei den Leuten im Alltag ankommt – eine Reise in alle Himmelsrichtungen. Zweite Station
AUS PASSAU WALTRAUD SCHWAB (TEXT) UND STEPHANIE F. SCHOLZ (ILLUSTRATION)
In Passau ist von allem viel: Wasser, Worte, Schönheit, Entsetzen. „Ich bin froh, dass wir unsere Flüsse wiederhaben“, sagt ein Mann mit tiefer, echostarker Stimme. Masseur war er, jetzt arbeitslos, weil die Hände so wehtun, 47 Jahre erst. Und was war stattdessen da, als die Flüsse weg waren? „Ein Meer“, antwortet er. Er sitzt in einem Café, nicht weit von dort, wo die drei Flüsse zusammentreffen: der hellgrüne Inn, die schlammig türkisfarbene Donau und die dunkle Ilz, die aus dem Bayerischen Wald kommt.
Keine drei Monate ist es her, da sind die Flüsse über die Ufer getreten. Die Donau fast dreimal so hoch wie normal. Das Wasser stand in vielen Häusern der tausendjährigen Stadt, die einst Metropole und reich war, reich vom Salz, damals, als Flüsse Haupthandelsrouten waren, als die Stadt Fürstentum und Bischofssitz war, das Nibelungenlied soll um 1200 da niedergeschrieben worden sein, auch Walther von der Vogelweide ist erwähnt, weil er für seine Dienste als Sänger des Bischofs einen Pelzrock erhielt. Und nun also flutete das Wasser nicht nur die Keller, die Erdgeschosse, auch die ersten Etagen der vielhundertjährigen Häuser in den engen Gassen. Deshalb stehen jetzt alle Fenster, alle Türen auf. Der Geruch feuchter Mauern wird zum Geruch Passaus, das Rauschen der Trockner sein Ton. „Bis nächstes Frühjahr wird es dauern, bis alles normal ist“, sagt ein Maurer in der Höllgasse, „wenn überhaupt.“ Wenn es ums Politische im Kleinen geht, und darum geht es bei dieser Reise in alle Himmelsrichtungen, dann ist in Passau das Hochwasser groß.
Da Türen und Fenster offen stehen, zeigt sich die alte Architektur in ihrer labyrinthischen Tiefe, Gewölbe, Innenhöfe, verschlungene Portale und Innenfluchten, Anbauten, die sich an Kirchenmauern lehnen, Säulen, die das Wasser unterspülte und die dennoch tragen, ein Pisa, ein Venedig, ein Abenteuerspielplatz. Wäre die Stadt, die nach ihrem letzten großen Brand 1662 von italienischen Baumeistern wieder aufgebaut und barock geschmückt wurde, nicht versehrt, wären die Türen verschlossen. Und der Mund der Menschen, wer weiß, auch. So aber, so werden immer wieder neue Wörter, neue Sätze, neue Bilder gesucht, mit denen die Katastrophe beschrieben wird. Schlimm, schlimm, unbeschreiblich, unvorstellbar. „Wenn Sie mich danach fragen, sprudelt es“, sagt die Glasmalerin aus der Höllgasse und zeigt, wie sie über eine Luke noch Sachen aus ihrem Atelier geschafft hat.
Zusammenhalten
Ihr Laden ist wieder auf, einer von wenigen in der Gasse. „Die Natur hat ihre eigenen Gesetze“, sagt sie. „Ich halte mich für eine stabile Person, aber auch ich bin traumatisiert.“ Sie hat sich in Arbeit gestürzt, um es zu verkraften. Als gebürtige Passauerin sei sie an viel Wasser gewöhnt, aber nicht an so viel. Dass die ganze Stadt angepackt hat, dass die Studenten kamen mit Schaufeln auf dem Rücken, dass alle zusammengehalten haben, das habe die Leute durch den Ausnahmezustand getragen. Sie hofft, dass es hält.
Das hoffen auch die Weinhändlerin, der die Tränen kommen, der Teppichhändler, der tausend Teppiche verlor, der Hotelier, der alles in seinem Restaurant samt Küche auf den Sperrmüll werfen musste, der Lokalpolitiker von den Grünen, dem die Wohnung zwar nicht „absoff“, wie derb gesagt wird, dem zuletzt aber die Freundin abhandenkam, die Arbeit wegbrach und der beste Freund starb. Auch die älteste CSU-Stadträtin ist beeindruckt von der Solidarität. Alle hoffen, dass was davon bleibt, aber sicher ist es nicht.
Als das Wasser da war, war es eine kollektive Katastrophe, der Zähler war der Nenner: jeder für alle. Jetzt ist alles schon stärker auseinanderdividiert: jeder für sich. „Die bekommen doch Geld“, sagen ein paar Heizungsbauer, die einen Kaffee in der Klingergasse trinken. Ist das Neid? „Ich sehe doch, was ich sehe“, antworten sie. Auch bei der Änderungsschneiderin – sie kam vor mehr als 30 Jahren aus Jugoslawien nach Passau und hat ihren Laden in der Gasse „Unterer Sand“ – taucht ein erster Misston auf. Das Hochwasser, das bis unter die Decke stand, hat alles verschluckt: Faden, Maschinen, Sachen der Kunden. Jetzt will einer von ihr 150 Euro, weil acht kleine und drei große Knöpfe, die er ihr gebracht hatte, damit sie sie ans Sakko näht, verloren gingen. „150 Euro – das ist Schande“, sagt sie erregt. Sie glaubt, er denke, sie wäre jetzt reich, weil sie Entschädigung kriegen soll, 80 Prozent, aber die Anträge, „kompliziert“.
Barbara Dorsch, korpulente Kabarettistin in hellgrünem Trachtenjackett, Gstanzlsängerin, „wissen Sie, was eine Gstanzlsängerin ist?“, Schauspielerin, in Passau geboren, aufgewachsen mit Bruno Jonas, Kindermädchen bei Achternbusch, Garderobiere bei Evelyn Künneke, hat alles verloren, auch das Klavier und den Flügel. Jetzt wohnt sie im Speicher des Hauses auf zwölf Quadratmetern und ringt der Katastrophe ein Zuviel an Poesie ab. „Was du brauchst: / Ein Fenster zu sehen / den Baum und / den Himmel“, zitiert sie mit weicher Stimme, nicht wortgetreu, die Dichterin Friederike Mayröcker. Den Winter fürchtet sie. „Das war wie eine Abtreibung“, sagt sie, „wenn’s jetzt regnet, denke ich, es hört nie mehr auf.“
Sie geht durch die Stadt, zeigt den in Stein gehauenen Narren in der Trennbach-Kapelle beim Dom, lässt sich fotografieren mit ihm, weil sie selbst eine Närrin sei, erinnert sich an ein Gstanzl über Sahra Wagenknecht, „auch wenn die Sahra Wagenknecht von Lafontaine angetan, geht das, mit Verlaub, überhaupt niem’nd was an“, führt in den Probenraum ihrer Bühnenpartnerin, den sie jetzt nutzen darf, setzt sich ans Klavier, beginnt mit Bach, „Die Kunst der Fuge“, und endet bei Bessie Smith’ „Backwater Blues“, improvisiert den Text: „The water came in, why, why, I saw it coming. The water came in, why, why. I lost my home not in Alabama, in my hometown in Germany, why, why.“ Wenn sie „why“ singt, klingt es wie Weinen. „Was du brauchst: Ein Fenster zu sehen“, wiederholt sie und sagt noch, dass man den Walter Landshuter besuchen soll im Scharfrichter-Haus.
Das über 800 Jahre alte Scharfrichter-Haus in der Milchgasse stand ebenfalls unter Wasser. Einst war es städtisches Gefängnis, in das vor 36 Jahren ein Kulturzentrum einzog, um mit Worten, immer dieses Viel an Worten, mit Kabarett, mit Humor gegen bayrischen Filz, Sumpf und Katholizismus zu kämpfen; Bruno Jonas, Barbara Dorsch haben hier angefangen. Eine halbe Million Schaden, schätzt Landshuter. „Als das Wasser da war, war eine beängstigende Stille. Wir haben uns nach Lärm gesehnt.“ Das Aufräumen, bei dem auch Burschenschaftler in seinem Innenhof standen, denn „im Wasser lösen sich die Konturen auf“, nutzt er für eine Abrechnung. Weil die Feindbilder zwischen den Konservativen und den Linken nicht mehr so deutlich sind wie früher, sei auch die linke Kritik zahnloser geworden. Aus Aufruhr wurde gehobene Gastronomie, aus Kabarett Comedy. „Unser Beil ist nicht mehr scharf“, sagt er. Obwohl es genug Zündstoff gebe, etwa die braune Szene in und rund um Passau, die niemanden stört, oder die engstirnige Politik der Stadt, die ihren Schatz, die Kultur, zur Pappkulisse verkommen lasse für den Tourismus.
„Bulimietourismus“, wirft die Bedienung, eine Jurastudentin, aufgeregt ein. Sie ist bei den Jusos, das ist an der Passauer Uni schon extrem links. Abgefüttert kämen die Leute von den Kreuzfahrtschiffen, überschwemmten die Stadt und gehen zum Essen – all inklusive – wieder an Bord.
„Ich bin auch auf dem Weg, zur Pappkulisse zu werden“, sagt Landshuter. Aber das Hochwasser habe Tausende zum Nachdenken, zum Umdenken gebracht. Entweder man macht so weiter wie bisher und wartet auf die nächste Katastrophe oder man überlegt, was man tun kann. Zwanzig Jahre schon kämpft man im Scharfrichterhaus gegen den Donauausbau an, fordert, dass der Fluss mehr Raum bekommt. Jetzt sagt das sogar der Seehofer, dass er auf den Donauausbau verzichten wolle. (Obwohl, vielleicht ist es doch nur „Seehoferei“, fragt sich der stellvertretende Bürgermeister der Stadt, einer von der ÖDP, den konservativen Ökologen.)
Auseinanderbrechen
„Das Wasser kommt wieder“, sagt Bianca Teumer, „ganz klar“, und „bald“ und „schneller, als wir denken“. Es werde geredet, geredet und nichts getan. Teumer, eine blonde, 38-jährige Raumpflegerin, drahtig, patent, alleinerziehend, hat sich bisher noch nie öffentlich zu Wort gemeldet. Sie war damit beschäftigt, sich eine neue Existenz aufzubauen, nachdem die alte sich als Täuschung herausstellte und die Liebe auch. Und dann kam das Wasser. Nicht für sie, für andere. Da wollte sie helfen und richtete eine Facebookseite ein, die „Hochwasserhilfe Passau“ heißt. Tausende empfehlen sie weiter, unversehens wird sie zu einer Anlaufstelle für Sachspenden. Sofas, Kleidung, Geschirr, Kaffeemaschinen, ganze Küchen, Spielzeug, Kinderbetten, Kerzenleuchter, PCs – die Leute rund um Passau sammeln, lastwagenweise. Teumer findet eine 500 Quadratmeter große Halle an der Regensburger Straße, neben der Shell-Tankstelle, dem Media Markt, mietfrei, wo die Sachen lagern. Jetzt verbringt sie mit drei Freunden, Fabrikarbeiterin eine, Obstausfahrer ein anderer, alle Abende, alle Wochenenden, sortiert, verteilt, spricht mit den Betroffenen, „manche schämen sich, dass sie jetzt Dinge brauchen. Da sag ich, nehmen Sie es, die Leute haben es gerne gespendet.“ Sie kann es nicht fassen, dass plötzlich alles anders und dass Verantwortung groß ist.
Und so geht das immer weiter. Im Café am Ludwigsplatz fragt ein dicker Mann, ob er sich an den Tisch setzen darf. Gern, wenn Sie sagen, was Sie politisch bewegt. „Politisch? Ja, was möchten’s wissen?“ Ob er Hochwasser hatte? Nein, er sei aus dem Bayerischen Wald. Aber die Passauer seien Hochwasser gewöhnt. Ob er geholfen hat? Nein, die Bandscheiben. Seinen Beruf musste er aufgeben, jetzt ist er Sicherheitsmann beim Gericht. Er würde gerne so wie früher. Was? Rauchen, trinken, anpacken? „Geht alles nicht mehr.“ Er kenne viele in seinem Alter, 56 ist er, die seien schon tot. Und sonst? Gehen Sie wählen? „Ja schon.“ Was? „Raten Sie!“ CSU? „Nicht ganz.“ Er sei ja für Grün, aber dieses Mal wählt er die Linken. „Jetzt sind’s überrascht. Sicher, viele wählen CSU bei uns, aber ich bin kein Landei.“ Er sagt’s nicht schelmisch, sondern ernst. Warum die Linken? „Wegen dem Sozialen“, sagt er mit spitzem „i“ und kurzem „a“, „wegen dem Sozialen.“ Und dann sagt er noch: „Das ist nicht richtig, dass die Gesellschaft so auseinanderbricht.“
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