: Es ist Zeit für die Systemfrage
Eine zukunftsfähige Finanzierungsreform der Krankenkassen wird es nur geben, wenn die Spaltung des Versicherungsmarktes in Private und Gesetzliche aufgehoben wird
Im Mittelpunkt der Gesundheitsreform steht ein Problem: In der gesetzlichen Krankenversicherung klafft die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander, obwohl die Sparmaßnahmen ein Ausmaß angenommen haben, das Ärzte und Pflegepersonal auf die Barrikaden treibt und man manchem Patienten sogar medizinisch notwendige Behandlungen vorenthält. Massenarbeitslosigkeit, stagnierende Löhne und geringfügige Beschäftigungen verhindern den Anstieg der beitragspflichtigen Einnahmen.
Mehr Ärzte, bessere Behandlungsmethoden, aber auch teure Scheininnovationen verursachen hingegen immer höhere Ausgaben. Eine Umkehr dieses Trends ist nicht absehbar. Behandlungsfortschritte und der höhere Anteil betagter Bürger werden die Ausgaben weiter erhöhen. Dem stehen kaum Mehreinnahmen gegenüber. Parallel blutet die gesetzliche Krankenversicherung aus, weil sich einkommensstarke Personen dem Solidarprinzip durch eine private Krankenversicherung entziehen. Dabei handelt es sich um besonders „gute Kunden“: Nur Gutverdiener dürfen abwandern, nur für Jüngere, Gesunde und Kinderlose lohnt ein Wechsel. Das Nadelöhr der Reform besteht daher im künftigen Verhältnis zur privaten Krankenversicherung.
Zwar lässt sich das Finanzierungsproblem der gesetzlichen Kassen sicher nicht durch ein naives „Nehmt es von den Reichen!“ beseitigen. Vordergründig ist das CDU-Argument treffend, wonach 10 Prozent der Bevölkerung als Privatversicherte nicht allein die massiven Finanzprobleme der gesetzlichen Kassen lösen können, die für neun von zehn Bürgern zuständig sind. Fraglos werden auch Normal- und Geringverdiener einen steigenden Anteil ihres Einkommens für Gesundheit aufwenden müssen, wenn der medizinische Fortschritt künftig allen Bevölkerungsgruppen zugute kommen sollen.
Bei näherer Betrachtung geht es aber um Grundlegenderes, nämlich um die sozial-moralischen Grundlagen des Wohlfahrtsstaates. Nun kann man einwenden, dass die Krankenversicherung keine moralische Frage sei. Gewiss, es geht auch um nüchterne Interessen. Wir Bürger rechnen – im doppelten Wortsinne – mit den Leistungen der Krankenkassen und erwarten, dass das, was verteilt wird, nicht denen zugute kommt, die sich nicht an seiner Finanzierung beteiligen.
Gleichwohl sind die Arrangements der Wohlfahrtsstaaten nicht allein durch solches Nutzenkalkül erklärbar. Solidarität hat immer auch eine Geschichte, in der es um sozialen Sinn, um politische Ziele oder um Vorstellungen von Gemeinsamkeit geht. Gehört die Versorgung behinderter oder chronisch kranker Kinder zur alleinigen Verpflichtung der Eltern – oder muss die Gemeinschaft sie hierin unterstützen? Ist der Heroinkranke für sein Leiden selbst verantwortlich – oder schulden wir ihm ein Mindestmaß an Unterstützung? Solche Fragen sind ohne Bezug auf ein die Gesellschaft leitendes Verständnis von Solidarität nicht beantwortbar.
Deshalb wird in der Diskussion um die Krankenversicherung die diffuse Debatte um gemeinschaftliche Bindungen und Werte konkret. Die deutsche Krankenversicherung ist seit langem durch ein Nebeneinander grundlegend verschiedener Auffassungen von Gerechtigkeit geprägt. Hier das eingeschränkte Verständnis der privaten Versicherungen, das auf einer Gleichwertigkeit von Geben und Nehmen, auf Tauschgerechtigkeit beruht: Die individuellen Versicherungsbeiträge richten sich allein nach den zum Vertragsabschluss statistisch erwartbaren finanziellen Aufwendungen. Wer eine höhere Krankheitsanfälligkeit besitzt, muss höhere Beiträge zahlen oder bleibt gänzlich ausgeschlossen. Die Folgelasten schicksalhafter Benachteiligungen – durch eine vererbte erhöhte Krankheitsanfälligkeit oder ein Hineingeborenwerden in krank machende Lebensverhältnisse – trägt der Einzelne. Die gesetzliche Krankenversicherung hingegen beruht auf einem Verständnis von Solidarität, bei dem die Gemeinschaft die Benachteiligungen Einzelner zu kompensieren versucht. Versicherte entrichten nach ihrer Leistungsfähigkeit Beiträge und erhalten im Gegenzug bei Bedarf das medizinisch Erforderliche. Reiche springen für Arme, Gesunde für Kranke, Junge für Alte, Kinderlose für Kinderreiche ein.
Ethisch war der deutsche Mischmasch von privaten und gesetzlichen Krankenkassen schon immer inakzeptabel: Hält man eine gesundheitliche Solidarpflicht für gerechtfertigt, gibt es keinen Grund, just besonders gut Verdienende von dieser Pflicht zu befreien. Politisch traf diese Regelung dennoch so lange auf Akzeptanz, wie in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität auch Durchschnittsverdiener am medizinischen Fortschritt partizipierten und steigende Kassenbeiträge durch Reallohnzuwächse aufgewogen wurden. Diese Zeiten sind vorbei. Künftig wird die Mehrheit der gesetzlich versicherten Gering- und Durchschnittsverdiener immer weniger zur Solidarität mit Kranken, Behinderten und Alten bereit sein, weil sie erkennt, dass just die Besserverdienenden, Beamten und Selbstständigen sich nicht daran beteiligen.
Dieser Sicht widersprechen die privaten Kassen. Man beteilige sich sehr wohl an der Solidarität, indem man über höhere Vergütungen für Ärzte und Kliniken das Gesundheitssystem stabilisiere. Tatsächlich fördert diese Praxis aber eher die Vertrauenserosion in die gesetzlichen Kassen. Deren Versicherte tragen nicht nur die Alleinlast der Solidarität, sondern erleben zudem, wie sie in der medizinischen Versorgung als Patienten zweiter Klasse behandelt werden.
Belässt man es bei der Spaltung zwischen privaten und gesetzlichen Kassen, wird aber nicht nur die soziale Akzeptanz für die finanzielle Solidarität mit Kranken geschwächt. Selbst sinnvolle Einzelreformen verfehlen dann ihre Wirkung: Lässt man etwa die Privaten unverändert und sichert Kinder über Steuern ab, werden einkommensstarke Familien verstärkt die gesetzlichen Kassen verlassen, und diese werden noch stärker ausbluten. Eine zukunftsfähige Finanzierungsreform der Krankenkassen wird es daher nur geben, wenn man die Spaltung des Versicherungsmarktes aufhebt, die die Leistungsfähigsten bislang nicht an der gesundheitlichen Solidarität beteiligt.
Die Lösung bestünde in mehr Markt und unmittelbarer Konkurrenz: Bei einer Pflichtversicherung für alle würde den Privaten die Option eingeräumt, alle Bürger zu gleichen Bedingungen zu versichern, wie die gesetzlichen Kassen: Kein Ausschluss krankheitsanfälliger Personen, einkommensabhängige Beiträge und Gewährleistung der medizinisch notwendigen Versorgung. Das Recht der Bürger auf freie Krankenkassenwahl würde auf alle Kassen ausgedehnt. Schritte in diese Richtung bestünden in der Beteiligung der Privatversicherten am Einkommensausgleich oder in einem Ausgleich zwischen beiden Systeme für die unterschiedlichen Anteile älterer und kranker Bürger. HARRY KUNZ
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