: „Man wählt die Verwaltung“
BEWEGUNG Eine Außenministerin, die Völkermord unter Einsatz ihres Lebens verhindert, bundesweite Volksentscheide, keine Drohnenkriege von deutschem Boden aus, Energiewende in Berlin: Politische AktivistInnen haben eine ganze Reihe von Wünschen zur Bundestagswahl – nehmen die Sache aber lieber selbst in die Hand, statt darauf zu vertrauen, dass ihr Kreuz Veränderungen bewirkt. Protokolle von Martin Kaul
Merkels Mantra der Alternativlosigkeit sitzt tief in den Köpfen und lähmt viele Diskussionen. Dabei gibt es überall Alternativen, um die wir streiten sollten. Ich kämpfe derzeit für den Stopp der Steuertrickserei transnationaler Konzerne, für eine spürbare Besteuerung großer Privatvermögen und für das Ende der preistreibenden Spekulation mit Nahrungsmitteln.
Jutta Sundermann, 42, Mitbegründerin von Attac, Mitglied im Stiftungsrat der Bewegungsstiftung
Mit dem Europäischen Stabilitätspakt hat sich das Parlament selbst entmachtet und die Königsdisziplin der Politik an einen Gouverneursrat abgeschoben. Das Parlament sieht sich offenbar nicht mehr in der Lage, unsere Interessen zu vertreten. Ich werde deshalb ungültig wählen.
Holger Isabell Jähnicke, 51, arbeitet im Rechtshilfebüro für gewaltfreie Bewegung in Hamburg
Von deutschem Boden geht permanent Krieg aus – und zwar im Rahmen der Drohnenkriege, die auch aus meiner Heimatstadt geführt werden. Aus der US-Kommandozentrale Africom in Stuttgart-Möhringen werden Drohnenangriffe in Somalia koordiniert. Ich erwarte von der kommenden Bundesregierung, dass sie diesen Skandal beendet.
Dietrich Wagner, 69, Stuttgart-21-Gegner, ist seit dem Stuttgarter „Schwarzen Donnerstag“ blind, weil ihn Wasserwerfer trafen
Die neue Regierung, egal wie sie aussieht, wird nach der Wahl das Erneuerbare-Energien-Gesetz umbauen. Ich möchte mich nicht darauf verlassen, dass sie dann dem Druck der fossilen Großkonzerne standhält. Deswegen nehme ich die Energiewende selbst in die Hand, mit unserer Energiegenossenschaft.
Luise Neumann-Cosel, 27, bietet mit der Genossenschaft BürgerEnergie Berlin um das Berliner Stromnetz, das derzeit von Vattenfall betrieben wird
Ich habe 2012 in Griechenland gewählt, wo man mit seiner Stimme Politik bewegen konnte. Es ging um viel: den Alltag meiner Familie, den Euro, Europas Krisenkurs. Nun schauen die GriechInnen nach Deutschland, wo gähnende Unaufgeregtheit herrscht. Im Land des Krisenprofits gibt es kein Bedarf nach bewegender Politik. Der Rahmen ist gesetzt, man wählt die Verwaltung: Postdemokratie at it’s best.
Margarita Tsomou, 36, Herausgeberin beim „Missy Magazine“
Ich wünsche mir eine Außenministerin, die das Rückgrat hat, einen Völkermord unter Einsatz ihres Lebens zu verhindern. Einen Bundeskanzler, der seine politische Zukunft von der Beseitigung des globalen Hungers abhängig macht. Eine Innenministerin, die das drängendste Zukunftsproblem Europas löst: die Zehntausenden Toten zwischen Afrika und Europa.
Nina van Bergen, 32, ist eine Kunstfigur beim Zentrum für Politische Schönheit
Ich wünsche mir ein Land, in dem wieder Milch und Honig fließen. Wo es Kühen und Bienen gut geht, geht es auch den Menschen gut. Dazu muss die neue Regierung die EU-Richtlinien so auslegen, dass bäuerliche Familienbetriebe erhalten bleiben und neue gegründet werden. Es müssen die Bäuerinnen gestärkt werden, die Arbeitsplätze schaffen, das Tierwohl ernst nehmen, die Artenvielfalt mehren.
Michael Grolm, 41, Berufsimker, Mitgründer von Gendreck weg
Ich erwarte, dass uns nicht nur vertraut wird, wenn wir als Wählerinnen und Wähler gefragt sind, sondern auch zwischen den Wahlen. Wir brauchen auch in Deutschland endlich den bundesweiten Volksentscheid, damit wir über Schicksalsfragen direkt abstimmen können. Das hängt derzeit an der Union, die sich dem verweigert.
Claudine Nierth, 46, ist Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie und kämpft seit 25 Jahren für den bundesweiten Volksentscheid
Die sich stetig öffnende Schere von Armut und Reichtum bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Um dies zu ändern braucht es die verbindliche, gesetzlich geregelte Umverteilung über eine gerechte Steuerpolitik. Auch wenn wir uns als Stiftung über jeden Vermögenden freuen, der sich mit einer Spende „selbst“ besteuert, so muss gerechte Umverteilung staatlich geregelt sein.
Matthias Fiedler, 45, Geschäftsführer der Bewegungsstiftung
Direkte Aktionen und dauerhafte Einmischung „von unten“ sind deutlich geeigneter, um Veränderungen zu erkämpfen, als Bundestagswahlen. Ich sehe in den Wahlen ein Machtinstrument des Staates, der versucht, uns vorzugaukeln, die Menschen hätten sich bewusst für die Politik der nächsten Jahre entschieden. Wahlen können aber als Anlass genutzt werden, um mit Aktionen etwas zu verändern.
Franziska Wittig, 31, blockiert mit Kletteraktionen Castor-Transporte
Wahlen schaffen Legitimation für eine Politik, die Menschen bevormundet und entmachtet. Dazu werden auch die nächsten Wahlen wieder beitragen. Ich möchte genau das Gegenteil und werde Kopf und Hand anlegen, um das etwas wahrscheinlich zu machen – mit entschiedenen Protesten gegen alle Formen von Umweltzerstörung.
Jörg Bergstedt, 49 Jahre, organisiert als unabhängiger Aktivist in der Projektwerkstatt Saasen Proteste
Ich erwarte von den Wahlen das Ende des inhaltslosen Wahlkampfs, dessen Ziel zu sein scheint, dass alles so bleibt, wie es ist. Ich erwarte das verdiente Scheitern der SPD und hoffe unrealistisch, dass wir irgendwann wieder Parteien haben, die aus dem neoliberalen Einheitsbrei ausbrechen, sich nicht nur mit sich und dem Machterhalt beschäftigen und progressive Politik attraktiv machen.
Anne Roth, 45, ist Bloggerin und Netzaktivistin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen