: Bei mir hat das Es die Hosen an
PLAKATE Beim Flanieren zeigt sich, dass Wahlwerbung alles andere als inhaltslos ist. Und das Plakat der „Partei“ zur Pädodebatte weckt Erinnerungen an dänische Pornos
VON DETLEF KUHLBRODT
Der Septemberregen stimmt ein bisschen traurig. Mit nassem Gesicht gehe ich durch die Straßen und schaue wehmütig auf die Wahlplakate. Wie schade, dass ich den Wahlkampf nicht besser verfolgt, dass ich so viele schöne Wahlkampfveranstaltungen verpasst habe.
Mir gefallen die Wahlwerbeplakate viel besser als die Plakate, die für andere Dinge Werbung machen. Auch wenn ich nicht immer der gleichen Meinung bin. Bei dem Piraten-Plakat mit der jungen Frau, die ständig gefragt werden will, denke ich sofort: Nein, ich will nicht dauernd gefragt werden, ich gehe wählen, damit meine Stellvertreter sich um Politik kümmern. Auch die SPD-Parole „Das Wir regiert“ entspricht nicht meiner Lebenswirklichkeit: Bei mir zu Hause hat noch immer das Es die Hosen an.
Gut gefällt mir das mit dem ticketfreien Nahverkehr, weil es tatsächlich meinen Horizont erweitern würde, wenn ich als Niedrigverdiener einfach in die BVG einsteigen könnte und, schwuppdiwupp, ist man plötzlich in Tegel, Pankow, wo auch immer und kann sich darüber informieren, wie die Welt dort ist. Am besten aber gefallen mir, wie fast immer, die Plakate der Partei namens Die Partei. Zum Beispiel: „Rauchfreier Bezirk – ohne mich! Neukölln qualmt weiter!“, oder das Plakat, das am Mittwoch in der Bergmannstraße hing mit der Parole: „Grüne! Finger weg von unseren Kindern! Ein Kind ist kein Touchscreen!“ Wobei fairerweise anzumerken ist, dass es in der Frühzeit der Grünen noch gar keine Touchscreens gab. Mit der „Partei“ ist man ästhetisch jedenfalls auf der richtigen Seite.
Während das große veränderte CDU-Plakat Mitte August in der Zossener Straße mit der Inschrift: „Rassismus und Ausbeutung – so bleibt Deutschland stark“, fast eine Woche lang hing, sind die an die Grünen gerichteten Plakate der „Partei“ innerhalb eines Tages beseitigt worden.
Ab und an spiele ich noch immer mit dem Gedanken, die Piraten zu wählen, auch weil sie so bedürftig erscheinen. Peer Steinbrück finde ich logischerweise auch gut; vielleicht, weil es früher, als noch alle geraucht hatten, eine Zigarettenmarke namens Peer gegeben hatte. Die FDP-Demo vor der taz war witzig. Und „Erststimme Ströbele“ ist natürlich auch okay. Ich fühle mich aber ein bisschen betrogen. Das letzte Mal hatte ich ihn mit nostalgischen Gefühlen gewählt, weil ich dachte, es sei das letzte Mal. Und nun soll’s schon wieder ein letztes Mal sein. Irgendwie mag ich auch Trittin und hatte ihn sofort „geliked“, nachdem sein Rücktritt gefordert worden war. Die nächsten Tage war ich dann aber genervt, weil das zur Folge hatte, dass nun ständig Trittin-Posts auf meiner FB-Seite standen.
Nachdem ich die sogenannte Pädodebatte anfangs komplett bescheuert fand, finde ich sie inzwischen interessant, auch weil sie Erinnerungen wachruft. Etwa an den Tag 1969 oder 1970, als ein Mitschüler die Pornobilder seines Opas auf dem Schulhof herumzeigte, und daran, wie eklig man das gefunden hatte. Oder an den zehnten Geburtstag eines Schulfreundes, als dessen fortschrittliche Mutter uns Super-8-Pornos vorführte, um diesen Bereich der menschlichen Erfahrung zu entmystifizieren. Auch an das erste Mal, als ich mit 14 oder 15 in Kopenhagen mutig ein Pornogeschäft betrat. An meinem Parka trug ich einen Ché-Guevara-Aufnäher und hatte das Gefühl, etwas Böses zu tun. Die Tier- und Kinderpornos in dem Geschäft (die Darsteller waren Jugendliche ungefähr meines Alters) hatten mich doch sehr irritiert. Bis 2001 war es in Dänemark erlaubt, Pornos mit Darstellern ab 15 Jahren zu produzieren. Der Vertrieb von „richtigen“ Kinderpornos wurde in Schweden und Dänemark erst Anfang der 80er, in den Niederlanden erst 1985 verboten, sagt zumindest Wikipedia.
Später, 1980 glaube ich, als ich als revolutionär gesinnter Schüler die taz abonniert hatte, wunderte ich mich über einen positiven Bericht über pädophile Aktivisten, die sich an die Gedächtniskirche gekettet hatten. Ein Alttazler, den ich auf die zwei bekennenden Pädophilen in der Anfangsphase der taz ansprach, sagte nur, die seien sehr nett gewesen. Es war tatsächlich eine andere Zeit. Dass Eltern und Kinder einander umarmten, war die absolute Ausnahme. Widerstrebend gab man einander die Hand. Und nun zurück zur Wahl.
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