: Leben im Widerspruch
Schriftsteller, Politiker, Gewerkschaftsfunktionär, Leidensmensch: „Einigkeit der Einzelgänger“, die Lebenserinnerungen von Dieter Lattmann
In Potsdam geboren, ist Dieter Lattmann ein Preuße, wie er im Buche steht; besonders und vor allem in seinem eigenen, in der Autobiografie nämlich, die er nun zu seinem diesjährigen 80. Geburtstag vorlegt und die er „Einigkeit der Einzelgänger“ nennt. Die Dichotomie des Titels ist Programm eines Lebens, das sich im Widerspruch erfuhr. Am eigenen Leib hat Lattmann spüren müssen, dass sich für Preußen Politik stets mit Macht verband. Sie mit Moral zu verknüpfen war die Absicht seiner Generation, insofern sie aus dem Erlebten gelernt hatte.
Zum Gehorsam erzogen, bildete er sich selbst zum Demokraten heran. Aus moralischem Pflichtgefühl den Zeitläuften zu widerstehen kann bis ins höchste deutsche Parlament führen und immerfort zu Enttäuschungen. Gegen die Resignation hat Lattmann in seinem Lebensrückblick angeschrieben. Er vergewissert sich dabei noch einmal der verstorbenen Weggefährten: Brandt, Kelly, Bastian etwa aus der Politik und Böll, Bachmann, Baumgart, Drewitz auf dem Felde der Literatur. Nicht ohne Stolz blickt er auf gewonnene Schlachten zurück, die Gründung des Verbandes deutscher Schriftsteller (1969) und die Durchsetzung der Künstlersozialversicherung. Private Schicksalsschläge, wie der Suizid des Sohnes, werden gewissenhaft registriert und in den Lebenskreislauf eingeordnet. Lachmann sei ein Leidensmensch, ist einmal geschrieben worden.
In der Eigenperspektive ist er vor allem Lehrer: „Politik muss die Mehrheit von der Notwendigkeit überzeugen, die bisher nur eine Minderheit einsehen will.“ So kämpft denn Lattmann auf vielen Schlachtfeldern, für die Sterbehilfe und gegen „eine Gesellschaft, die ihre Süchte nicht beherrschen, kaum einmal mäßigen kann“, gegen „Sozialverschleiß“ und für soziale Demokratie. Der Predigerton, dem jede altersweise Heiterkeit fremd ist, reizt bisweilen zur parodistischen Sichtweise, etwa auf das Silberhochzeitspaar Lattmann, das sich noch einmal vom Pfarrer trauen lässt. Die aufrechte Gesinnung in längst vergangenen Kämpfen mag heute manchen ebenso langweilen wie eine allzu billige Empörung, zumal eine gewisse Selbstgerechtigkeit auch zur Schwarz-Weiß-Malerei verführt.
An Farbe gewinnen die Erinnerungen Lattmanns jedoch dann, wenn er seinen beruflichen Werdegang als Pressemensch und Literary Scout schildert. Hierbei begegnete er bedeutenden Verlegerpersönlichkeiten der frühen Republik, deren Verlage heute verschwunden oder unter dem Dach eines Medienkonzerns versammelt sind.
Weil Lattmann schon immer, ob in Essays oder Romanen, sein Leben zur Literatur gemacht hat, erfährt man auch in den Erinnerungen nichts umwerfend Neues. Selbst der Titel ist eine Zweitverwertung. Die Verbindung von Literatur und Politik ist ihm hier indes am sinnfälligsten gelungen.
HERIBERT HOVEN
Dieter Lattmann: „Einigkeit der Einzelgänger. Mein Leben mit Literatur und Politik“. A1 Verlag, München 2006, 376 Seiten, 24,80 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen