: Kleine große Oper
KAMMEROPER Das Stadttheater Bremerhaven zeigt eine gelungene Inszenierung von Michael Nymans „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“
VON ANDREAS SCHNELL
Es ist ja sozusagen der Super-GAU, nicht nur, aber nicht zuletzt für einen Musiker: Sich nicht mehr zurechtfinden in der Welt, wahrgenommene Fragmente nicht mehr zu einem abstrakten Gegenstand zusammendenken zu können – die Noten auf einem Notenblatt zum Beispiel nicht mehr zu einer Melodie verbinden zu können.
In der neurologischen Fachsprache nennt man das „visuelle Agnosie“. Nicht eben ein klassischer Opernstoff, sollte man meinen. Michael Nyman schrieb dennoch genau über solch einen Fall, einen echten, aufgezeichnet 1985 vom Neurologen Oliver Sacks, die Kammeroper „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“.
Dieses einstündige Werk, 1986 uraufgeführt, inszenierte Martin Philipp nun in Bremerhaven im Kleinen Haus – wohl die erste Oper, die in dem kleinen Saal bis heute zu sehen war. Und eine, die zum Thema der Spielzeit passt, in der es um Erinnern und Vergessen geht, im kommenden Jahr widmet sich ein Festival dem Thema Demenz.
Dr. P., Sänger und Gesangslehrer, hat gelegentlich Probleme: Zuversichtlich, den Weg zur Konzerthalle zu finden, verläuft er sich dennoch und fragt eine Parkuhr nach dem Weg. Und er bringt es – siehe Titel – tatsächlich zustande, sich seine eigene Frau auf den Kopf setzen zu wollen. Eine Rose ist eben nicht immer und nicht für jeden eine Rose. Für Herrn P. ist sie ein „rotes, gefaltetes Gebilde mit einem geraden grünen Anhängsel“.
Dr. S. steht vor einem Rätsel. Zunehmend verzweifelt, führt er seine Versuche an P. durch. Aber er gibt so schnell nicht auf. Er überprüft, ob der Patient Gesichter erkennen kann, Filme ... Die Schwierigkeiten des Probanden macht die Regie dabei zu unseren: Szenen aus „King Kong“ werden über die gesamte Szenerie projiziert, wir sehen Fragmente, nicht sofort erkennbar ist, was da zu sehen wäre. Schach spielen kann Dr. P. allerdings nach wie vor exzellent – Dr. S. muss es schmachvoll erleben.
Nyman wurde vor allem als Komponist von Filmmusik bekannt, vertonte zahlreiche Filme Peter Greenaways sowie Jane Campions „Piano“. Stilistisch ist er von der Minimal Music beeinflusst und gilt als einer der humorvollsten Vertreter der Neuen Musik, wobei er sich stets ausdrücklich für eine „schöne Musik“ aussprach. Seine neurologische Kammeroper kommt dann auch alles andere als sperrig daher, zitiert Schumann, der bekanntlich im Irrenhaus endete.
Das „Verrückte“ im eigentlichen Sinne lässt Stefanie Stuhldreiers Bühnenbild auf nahe liegende, aber charmante Weise sichtbar werden. Nicht nur, dass das Ehepaar P., das uns erst als Halbpuppen vorgestellt wird, sozusagen auf die schiefe Ebene geraten ist und dort nun wohnt, auch das Mobiliar ist reizvoll eigen: Das Sofa ist ein Bild, das – natürlich – mehrfach gedreht werden muss, bis es schließlich an die beiden nach links abfallenden Stufen gelehnt wird und als Sitzgelegenheit dient. Das Kaffeegeschirr kommt an elastischen Schnüren von der Decke geschwebt.
Das bricht die Schwere des Sujets, ohne sie zu leugnen – ein Gestus, der sich bis ins Ende fortsetzt, wo wir Dr. P. summend auf dem Sofa sitzen sehen, verloren in der Musik, aber auch in ihr aufgehoben.
Gesanglich wird auf hohem Niveau agiert. Katja Bördner bewältigt ihre nicht einfache Partie auch in den hohen Lagen souverän, Filippo Bettoschi singt die tragische Figur des Dr. P. mit viel Gespür für die wechselnden Gemütslagen des Protagonisten, und Tobias Haacks führt mit seinem Tenor als Doktor durch den Abend. Und das kleine Instrumentalensemble unter der Leitung von Hartmut Brüsch versieht seine Aufgabe exzellent. Dafür den Weg nach Bremerhaven zu machen, lohnt.
■ Nächste Aufführung: Samstag (heute), 19.30 Uhr, Kleines Haus, Stadttheater Bremerhaven
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen