piwik no script img

Brauchen wir die Pille noch?Ja

VERHÜTUNG Nach ihrer Zulassung vor 50 Jahren in den USA wurde die Antibabypillle als Meilenstein der Emanzipation gefeiert. Heute ist sie das Verhütungsmittel Nummer eins – trotz Risiken für die Gesundheit

Carl Djerassi, 86, Chemieprofessor in den USA, genannt „Mutter der Pille“, weil er die Antibabypille erfand

Die pharmazeutische Industrie hat leider das Interesse verloren, grundsätzlich neue Verhütungsmethoden für Frauen und für Männer zu entwickeln. Sie richtet den Blick voll und ganz auf die Krankheiten in den reichen, alternden Länder. Die europäische Familie hat heute im Schnitt nur 1,5 Kinder – was weniger mit der Pille oder anderen Verhütungsmitteln als vielmehr mit Berufswünschen und Lebensentwürfen junger Paare zu tun hat. Daher ist es offensichtlich, wie wichtig Verhütung in diesen Gesellschaften ist, vorausgesetzt man predigt nicht die totale sexuelle Abstinenz: So hat die Pille 50 Jahre nach der Zulassung eine größere Bedeutung als je zuvor. Annähernd 100 Millionen Frauen auf der Welt haben sich für sie entschieden. Brauchen wir die Pille? Diese Frage sollte den Frauen in den katholisch geprägten Ländern Lateinamerikas gestellt werden. Hier ist die Zahl der illegalen Abtreibungen weltweit eine der höchsten. Und diese skandalöse Situation in Lateinamerika würde sich verbessern, wenn sie ermutigt würden, effektive Verhütungsmittel wie die Pille zu nutzen. Tut die katholische Kirche das nicht, macht es früher oder später die Gesellschaft.

Manuela Schwesig, 35, Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern und stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende

Die Kritik gerade konservativer Kreise an der Pille ist im Laufe der Jahrzehnte weitgehend verstummt, und das ist gut so. Aktuell diskutieren wir über die Pille im Zusammenhang mit der kostenfreien Vergabe dieses Verhütungsmittels an Frauen, die sich die Pille aus finanziellen Gründen nicht leisten können. Wenn durch diese Notlage ungewollte Schwangerschaften entstehen oder Frauen abtreiben müssen, müssen wir dafür sorgen, dass Frauen unterstützt werden und kostenfrei an die Antibabypille kommen. Kritisch sehe ich die suggerierte Planbarkeit des Kinderwunsches: Frauen glauben zuweilen, der richtige Zeitpunkt für Kinder könnte geplant werden, bis es oft „zu spät“ für Nachwuchs ist. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder in der Gesellschaft immer willkommen sind.

Oswalt Kolle, 81, Autor und Filmemacher. Gilt als deutscher „Sexpapst“ und „Aufklärer der Nation“

Die Pille hat historische Bedeutung: Die ganze Frauenemanzipation wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Sie hat die Frauen befreit, aber sie hat auch mich befreit. Wir alle, eine ganze Generation, hatten uns von Monat zu Monat gehangelt mit der Angst: Hat es wieder geschnackelt? Und dann, wenn eine Schwangerschaft eintrat, die Frage: Wie kriegt man eine Abtreibung hin? So war die Pille eine Befreiung aus der Not. Vielen Männern machte sie Angst, weil die Frauen nun selbst entscheiden konnten, ob sie verhüten. Vorher waren die Frauen darauf angewiesen, wie die Männer sich verhielten.

Wolfgang Becker-Brüser, 61, Arzt, Apotheker und Herausgeber des „arznei-telegramms“

Fast eindeutig ja: Die Pille ist eine der zuverlässigsten Methoden zur Empfängnisverhütung. Nur: Sie ist keine Zuckerpille. So tun aber manche Pillenproduzenten, wenn sie den Lifestylebereich in den Vordergrund rücken: reine Haut, schöne Haare und schlanke Figur. Die unerwünschten Wirkungen bleiben unterm Tisch. Das ist einer der Gründe, warum viele Frauen nicht die sicherste, am besten verträgliche Pille nehmen. Wer Präparate mit Östrogen und dem Gestagen Desogestrel, Gestoden oder Drospirenon einnimmt, sollte sich überlegen, auf Levonorgestrel-haltige Produkte umzusteigen (meist auch preiswerter). Das kann das Risiko von Venenthrombosen nahezu halbieren. So wird die seltene – aber lebensbedrohliche – Schadwirkung noch seltener. Frau (und Partner) sollte regelmäßig hinterfragen, ob nicht doch eine nicht-hormonelle Verhütungsmethode in Frage kommt.

Nein

Barbara Streidl, 37, Journalistin, Musikerin und eine der Autorinnen von „Wir Alphamädchen“

Wie wäre es mit einer Quote für die Pille? Die gynäkologische Praxen, besorgte Mütter und engagierte Medien davon abhält, jedem jungen Mädchen automatisch zum ersten Lippenstift ein hormonelles Verhütungsmittel in die Schultasche zu packen. Besser erklärt man den Mädchen erst mal, dass die Pille zwar vor einer Schwangerschaft bewahrt, aber nicht vor ansteckenden Krankheiten (Herpes, HPV, HIV). Das können nur Kondome. Die helfen auch, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was Sexualität ist. Eben nicht etwas, was alle tun, so ich auch. Sondern etwas, für das ich mich entscheide – oder dagegen. Deshalb ist das Allzeit-bereit-Gefühl, das mit der Pille verbunden sein kann, sehr problematisch. Ebenso wie die Meinung, Verhütung sei doch Frauensache.

Felicitas Rohrer, 25, Pillenopfer. Aus Gesundheitsgründen kann sie ihren Beruf als Tierärztin nicht ausüben

Nein, weil die Pille tödliche Risiken birgt. Ich habe die Pille Yasminelle acht Monate lang genommen und bin im Juli 2009 fast an einer doppelten Lungenembolie gestorben. Ich war für 20 Minuten klinisch tot und musste notoperiert werden. Bei mir ist erwiesen, dass nur die Pille dafür verantwortlich ist. Ich besitze keine Blutgerinnungsstörungen, habe nie geraucht und immer Sport gemacht. Heute muss ich nicht nur mit der Nahtoderfahrung und den Narben fertig werden – ich muss einen Kompressionsstrumpf tragen, die Venen meines linken Beins sind irreparabel geschädigt, ich bin auf Medikamente angewiesen und in psychologischer Behandlung. Was ich esse, wie ich mich bewege, was ich anziehe, wie ich lebe – nichts ist mehr wie früher. Ich muss den Rest meines Lebens dafür büßen, die Pille genommen zu haben. Und ich bin kein Einzelfall. Das, was ich und andere durchmachen mussten, rechtfertigt keine Pille der Welt.

Michael Mander, 21, Verkäufer und Musiker, hat die sonntazfrage vorab auf taz.de kommentiert

Ich würde nicht jeden Tag Hormone einnehmen, die meinen Körper verändern, also würde ich auch nicht wollen, dass meine Freundin das tut. Die Hormone sind extremst gesundheitsschädigend und bringen den Hormonhaushalt total durcheinander, zum Beispiel kann es nach dem Absetzen sehr lange dauern, bis die Frau wieder schwanger werden kann. Zudem kann die Einnahme Krebs fördern. Man kann auch nicht wirklich sagen, dass die Menschen über die schädlichen Wirkungen der synthetischen Hormone informiert sind. Meine ehemalige Freundin wurde darüber damals beim Frauenarzt nicht aufgeklärt, die Hersteller feiern ihre Produkte sogar als „gesund“. Für mich ist die Pille nur ein weiteres Produkt, mit dem man die Verhütung auf die Frau abschiebt – welcher Mann würde bitte eine gesundheitsschädigende Pille für den Mann nehmen? Eben! Aber mit den Frauen kann man’s machen, beziehungsweise sie lassen es mit sich machen.

Gabriele Marx, 58, Frauenärztin und Autorin von „Die Pille – Vom Aufgang bis zum Untergang“

Heute ist der Umstand, Frau zu sein, fast schon ein Grund für Hormongaben: In der Pubertät zur Zyklusregulation, dann zur Schwangerschaftsverhütung, weiter bei unerfülltem Kinderwunsch und später in den Wechseljahren. Nützt das den Frauen oder eher den Herstellern? Viele Paare wählen die natürlichen Wege der Empfängnisregelung. Wenn die Selbstbeobachtung des Zyklus gelernt wird und die wenigen fruchtbaren Tage aufgrund körperlicher Symptome sicher gefunden werden, ist diese Vorgehensweise sehr sicher. Die meiste Zeit braucht man keine Verhütungsmittel. Sie hat keine Nebenwirkungen, sie vermittelt der Frau Wahrnehmung ihres Zyklusgeschehens und ist ein partnerschaftlicher Weg.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen