MEDIEN UND DIE UMWELT: Neuerscheinungen überall
VON HELMUT HÖGE
Man kann das alte Wort „Medien“ nicht mehr hören. Der Biologe Lamarck benutzte es noch synonym für „Umwelt“. In meiner Umwelt beobachte ich gerade, dass ständig neue Zeitschriften erscheinen. So, als würde das Internet nur den Musik- und Zeitungsverlagen zusetzen, die Produktion von Zeitschriftentiteln dagegen beflügeln.
Erwähnt sei das einen Preis für Gestaltung nach dem anderen einsammelnde Magazin Wedding, das von zwei jungen Ostdeutschen herausgegeben wird: Julia Boek und Axel Völcker – die sich darin mit dem Westberliner Arbeiterbezirk und den Gesamtberliner Normalos befassen, wobei sie thematisch vorgehen.
Die aktuelle Ausgabe ist dem Geld im Wedding gewidmet: Das Spektrum der Beiträge reicht vom Einkommen Einzelner und wie sie wohnen, über die Pfandleiher des Bezirks und die Kosten einer türkischen Hochzeit bis zum Ranking der dortigen Spielhallen. Man wünschte sich eine solche Zeitschrift für jeden Bezirk. Der Wedding nennt sich „Magazin für Alltagskultur“.
Bis 1997 hatte der Berliner Essayist Michael Rutschky eine Zeitschrift mit dem Titel Der Alltag herausgegeben. Sie fiel – wie so viele linke Westberliner Einrichtungen – der plötzlich nach Osten abgewandten Neugier der Linken zum Opfer. Die Alltagsforschung des Wedding wäre demnach so etwas wie ein Zurückschlagen. Das Magazin verkauft sich, nebenbei bemerkt, am besten in Stuttgart. Michael Rutschky gilt als Erfinder des Soziotops, er nahm mit seiner Westberliner Flaneurdistanz durchaus eine ähnlich erkenntnisreiche „Marginal Man Position“ seinem Gegenstand – dem Alltag – gegenüber ein wie Julia Boek und Axel Völcker heute, wobei die Konzentration auf den Wedding ihre Rechercheinteressen weniger beliebig macht.
Anders „Das Gesellschaftsmagazin“ Dummy, das von den Berliner Publizisten Jochen Förster und Oliver Gehrs herausgegeben wird. Sie greifen für jede neue Ausgabe sozusagen in heiße Luft, indem sie das zu umreißen suchen, was gerade oder gerade nicht Thema ist. So gab es u. a. Dummy-Ausgaben zu den Themen Verbrechen, Deutschland, Juden, Liebe, Schweiz, Polizei und dem in Berlin aktuellen Thema Touristen. Das aktuelle Dummy-Heft befasst sich mit Körper. Manchmal fehlt einem eine Historie des Begriffs. Im Wedding erschließt sich diese nach und nach aus den Erzählungen der interviewten beziehungsweise porträtierten Bewohner. Die Dummy-Herausgeber schrieben, als sie sich auf das Thema Körper festlegten: „Schnell flog uns eine unglaubliche Sammlung von Bildern zu, auf denen nackte und halbnackte Männer vor grölenden Frauen auf dem Boden herumpurzeln. Ein französischer Fotograf hatte den Teilnehmerinnen von privaten Strip-Partys ihre Bilder abgekauft. Für ein Portrait des halbseidenen Yoga-Gurus Bikram reaktivierten wir Tom Kummer, außerdem entdeckten wir eine fast unbekannte Kurzgeschichte von Thomas Mann.“
Eine andere Attraktivität
„Schöne Menschen werden als sympathischer, großzügiger und klüger gehalten als ihre weniger attraktiven Zeitgenossen …“ Warum? Darüber hält die Kunsthistorikerin Sabine Kornmeier am 15. Oktober einen Vortrag im Rahmen der Ausstellung „Bin ich schön?“ des Museums für Kommunikation. Es gab in den Siebzigerjahren einige Versuche, zu einer anderen (Körper)-Attraktivität zu kommen – als die in der Warengesellschaft gültige. Etwa in den üppig illustrierten Aktions-Analyse (AA) – Nachrichten. Sie wurden von der (Otto-)Muehl-Kommune im Burgenland herausgegeben, die damals allerdings noch in fast jeder deutschen Großstadt Ableger hatte, der in Westberlin war besonders groß. Die an der Sexualtheorie von Wilhelm Reich orientierten Kommunarden und Kommunardinnen hatten alle geschorene Köpfe und trugen Latzhosen; ihre allabendlichen gruppentherapeutischen Versammlungen absolvierten sie zwecks Kampf-Kritik-Umgestaltung ihres muskulären Ich-Körperpanzers nackt: keine halbintellektuelle „Talking-Cure“, sondern eine proletarierfreundliche „Selbstdarstellungs-Kur“.
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