Der Realo und die Empörte

LINKSPARTEI Die Partei wird in NRW stark von zwei Milieus geprägt, von den Gewerkschaften und vom akademischen Prekariat – von Leuten wie Thomas Prinz und Elisabeth Sachse

AUS KÖLN PASCAL BEUCKER
AUS HERTEN STEFAN REINECKE

Thomas Prinz schlendert durch die Fußgängerzone in Herten, eine Stadt im nördlichen Ruhrgebiet. Der Lottoladen an der Ecke steht leer, der Schmuckladen nebenan ist pleite, das TV-Geschäft gibt es auch nicht mehr. Im Einkaufszentrum sieht es nicht besser aus. So wie Herten geht es vielen Orten im nördlichen Ruhrgebiet. Die Bergwerke haben dicht gemacht, die Bevölkerung schrumpft, in den Innenstädten wächst der Leerstand. Herten hat 63.000 Einwohner, in zehn Jahren werden es noch 56.000 sein. Neue Gewerbeflächen anzubieten, das leuchtet Prinz nicht ein. Die Stadt ist zu groß, sie muss schrumpfen. „Wir werden weniger, älter, ärmer und bunter“, sagt der 42-Jährige.

Zwanzig Jahre in der SPD

Er trägt Jeans, kariertes Hemd und hat schmale Kotletten. Prinz ist Gewerkschafter, seit seiner Jugend. Er war 20 Jahre lang in der SPD, 2008 wechselte er zur Linkspartei. Jetzt ist er deren Fraktionschef im Stadtrat. Auf dem Parkplatz hinterm Rathaus trifft er den SPD-Bürgermeister Ulrich Paetzel. „Tach Uli“, ruft Prinz. Man kennt sich. Die SPD regiert mit absoluter Mehrheit. Der Regierungsstil ist traditionssozialdemokratisch. Die Linksfraktion hat neulich durchgesetzt, dass es erstmals seit 2001 wieder eine Haushaltdebatte gab. „Unser Bürgermeister ist ein guter Mann. Das muss man auch als Linker anerkennen“, sagt Prinz.

Auch Elisabeth Sachse aus Köln ist seit 2008 bei der Linkspartei. Doch ihre Biografie ist anders, ihre soziale Lage auch. Ein Jahr lang war die 45-Jährige bei den Grünen. „Als dort die Diskussion über Schwarz-Grün anfing, bin ich sofort raus“, erzählt sie.

Es ist Mittag. Beim wöchentlichen Erwerbslosenfrühstück der Kölner Linkspartei gibt es Kaffee, Tee, Brötchen, Eier, ein bisschen Aufschnitt. Ein Dutzend Menschen sind gekommen. Der Kostenbeitrag beträgt 1,50 Euro. Seit Juli 2009 organisieren Sachse und ihre Mitstreiter von der früheren Projektgruppe „Für soziale Gerechtigkeit – jetzt Aufstehen gegen Hartz IV“ das Treffen, zu dem „alle netten Menschen mit Tagesfreizeit“ eingeladen sind. Der Umgangston ist eher rau. Manchen sieht man an, dass ihr Leben kein leichtes ist.

Kämpferin gegen Hartz IV

Sachse ist Sprecherin des größten Kreisverbandes der Linkspartei in den alten Bundesländern. Sie ist erwerbslos. Das Treffen im Freidenkerzentrum in der Kölner Südstadt ist für die zierliche Frau mit den ergrauten Haaren kein Pflichttermin, es ist eine Art Lebensinhalt. „Ich führe jeden Tag den Kampf gegen Hartz IV“, sagt sie ernst.

Die Linkspartei spielt bei der NRW-Wahl am Sonntag eine Schlüsselrolle. Sie hat nach eigenen Angaben 8.500 Mitglieder. Die meisten waren nicht in der PDS oder der WASG, sondern sind, wie Prinz und Sachse, erst nach 2005 eingetreten. Zahlen, wie viele GenossInnen Hartz IV bekommen oder wie viele in der Gewerkschaft sind, gibt es nicht. Doch ein Kenner der NRW-Linkspartei meint, dass sie inzwischen von zwei Milieus geprägt wird: von den Gewerkschaftern auf der einen Seite und vom akademisch gebildeten Prekariat auf der anderen. Von Leuten wie Prinz und Sachse.

Thomas Prinz ist ein Vorzeigemitglied – verwurzelt und pragmatisch. „Ich habe immer an die sozialdemokratische Idee geglaubt“, sagt er. Er wohnt in einer Bergwerkssiedlung aus den zwanziger Jahren. Eine ruhige Gegend mit viel Grün, heute gehören den früheren Mietern die Häuser. Der stillgelegte Förderturm der Zeche ist kaum 200 Meter von Prinz’ Doppelhaushälfte entfernt. Kleiner Garten, Flachbildschirm im Wohnzimmer, Mittelklassewagen vor der Tür. Man könnte schlechter leben.

Mit 18 hat er im Bergwerk als Mechaniker angefangen, schnell wurde er Betriebsrat. Erst war er auf der Zeche Ewald in Herten, als die dichtmachte, wechselte er nach Walsum, als die Zeche dort schloss zur Auguste Viktoria nach Marl. 150 Zechen gab es in Deutschland, jetzt sind es noch sechs. 2018 ist endgültig Schluss.

In der NRW-Linkspartei hat sich Prinz dafür stark gemacht, dass die Erhaltung des Bergbaus ins Wahlprogramm aufgenommen wird. Die Linkspartei ist nun für weitere Kohleförderung, aber gegen neue Kohlekraftwerke – eine Linie, die nur sehr gläubigen Genossen einleuchtet. Was die Energiepolitik angeht, denkt Prinz wie ein Sozialdemokrat alter Schule. Die globale Nachfrage nach Kohle, glaubt er, werde wieder anziehen. Aber er weiß, dass der Ausstieg aus dem Bergbau nicht rückgängig zu machen ist. Weil es keine Mehrheit gibt, weiterhin Geld in den Bergbau zu stecken. Thomas Prinz ist Teil einer Welt, die allmählich, wie in Zeitlupe, verschwindet.

Elisabeth Sachse zog nach dem Abitur nach Köln. Sie studierte Geschichte und Politik auf Magister. Dann wurde sie schwanger, bald darauf wieder. Dann stand sie mit den beiden Kindern allein da. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Technischen Assistentin, später eine Schreinerlehre, beides vergebens. Sie hangelte sich von Job zu Job. „Ich war immer in Sozialhilfebezug, habe höchstens aufstockend hinzuverdient“, sagt sie. Mit 38 Jahren begann sie noch einmal zu studieren, Mathematik und Gesellschaftslehre auf Lehramt. Bei der Protestbewegung gegen die Einführung von Studiengebühren war sie mit dabei und besetzte das Rektorat der Kölner Uni. „Zehn Tage habe ich im Rektorat gewohnt“, sagt sie. Sie überschreitet die Regelstudienzeit, bricht erneut ab.

Wieder Hartz IV. „Ich habe vier Monate warten müssen, bis die mir das Geld zahlten“, sagt sie empört. „Jedes Mal, wenn ich vorgesprochen habe, war ein anderer Sachbearbeiter zuständig.“ Nur mit viel Glück habe sie diese Zeit überstanden. „Ich habe gedacht, das wäre ein Einzelfall.“ Aber dann habe sie begriffen, dass das nicht so ist. „Und das hat mich zutiefst empört: In diesem Land, einem der reichsten Länder der Welt, solche Situationen, das darf nicht sein.“ So kam sie Anfang 2008 zur Linkspartei.

Prinz ist etwas später eingetreten, im Oktober 2008. In der SPD hatte er sich schon lange unwohl gefühlt, wegen Hartz IV, der Rente mit 67 – die üblichen Gründe. „Ich konnte eigentlich keinen Wahlkampf mehr für die SPD machen. Denn da war ich als Gewerkschafter unglaubwürdig.“ Sein SPD-Parteibuch hat er zurückgeschickt. Der Abschied war verbunden mit zwei, drei schlaflosen Nächten. „Ich kannte ja alle seit Jahren.“ Seine Posten als Vizechef des DGB in Herten und Vize der IG Bergbau, Chemie, Energie war er wenig später los.

Prinz war das neunzehnte Linkspartei-Mitglied in Herten. Eineinhalb Jahre später zählen sie 63 Genossen. Anderswo, in Herne oder Mülheim, haben sich die Genossen gespalten oder sie bekämpfen sich. „Bei uns läuft es gut“, sagt Prinz. An der Linkspartei schätzt er, dass man „kritisch über Politik redet und nicht bloß darüber, ob ein Fahrradweg verlegt wird.“

RWE verstaatlichen

Dass die Linkspartei die Verstaatlichung von RWE und Eon fordert, findet Prinz in Ordnung, auch wenn er am Infostand ein bisschen brauche, „eh die Leute das verstehen“. Besser wäre es, wenn auf den Plakaten Geld für die Kommunen gefordert würde. Herten hat 270 Millionen Euro Schulden und wird 2011 wohl wegen Überschuldung unter Zwangsverwaltung gestellt. Dann müssen alle Ausgaben über 60 Euro vom Regierungspräsidium genehmigt werden. Von der Sprachförderung bis zur Volkshochschule ist vieles in Gefahr. Weniger Steuereinnahmen, mehr Billigjobs – die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Vielleicht ist der Bankrott der Kommunen ein Vorzeichen. Der Strukturwandel kommt nicht mehr wie beim Bergbau abgefedert und allmählich, sondern als Crash. Ein Untergang, ganz ohne Zeitlupe.

Und was ist mit der NRW-Linkspartei als Hort der Irren und Radikalen? Querulanten, sagt Prinz, gebe es in allen Parteien. „Für Fundamentalopposition wählen uns die Leute nicht.“ Wenn die Partei einen Großteil ihrer Ideen mit SPD und Grünen durchsetzen kann: „Warum sollen wir dann nicht regieren?“ Die Parole „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten“ findet er eher misslungen. „Die Leute wollen wissen, wofür wir sind, nicht nur wogegen.“

Die Partei Willy Brandts

Das sieht Elisabeth Sachse in Köln etwas anders. Die SPD sei nun einmal für Hartz IV verantwortlich. „Da fühlen wir uns verraten von den Sozialdemokraten.“ Es ist eine tiefe Enttäuschung über die Partei Willy Brandts. „Ich habe als junges Mädchen noch Willy mitgekriegt und diese Stimmung in dem Land: Wenn du willst, dann kannst du es – und wir unterstützen dich.“ Sachse hat ein Sensorium für Ungerechtigkeiten. „Meine Kinder und ich erleben täglich, was Ausgrenzung aufgrund sozialer Herkunft bedeutet.“ Ihr Engagement ist ein Kampf um die eigene Würde. „Wenn man ein dickes Portemonnaie hat, ist das Leben einfach – arm zu sein, ist viel Arbeit!“

Sachse macht, was man früher „Betroffenheitspolitik“ nannte. Ihr Politikverständnis ähnelt dem der Alternativbewegung in den achtziger Jahren. Basisdemokratie ist ein Schlüsselwort. Das führt zwangsläufig zu Konflikten in ihrer Partei. Denn sie hat ein tief sitzendes Misstrauen gegen „die da oben“ – auch in der Linkspartei. Sachse ist daher nicht unumstritten. Bei ihrer Wahl zur Kreissprecherin bekam sie nur eine knappe Mehrheit – ohne Gegenkandidatin. Sie weiß, dass viele Funktionäre sie schwierig finden. „Da muss man sich halt widersetzen – und nerven, nerven, nerven.“