normalzeit: HELMUT HÖGE über moderne Nomaden
„Das Produktive ist nicht sesshaft, sondern nomadisch“ (Michel Foucault)
„Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreißt und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich auch optimistischer sagen: Wir haben 10.000 Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen. Und das ist auch die Erklärung für das aufkommende Interesse am Nomadentum …“, meinte Vilém Flusser. Dieses Interesse haben zuerst die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer „Nomadologie“ ausformuliert. Die spitzte der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko zu: „Der Künstler muss als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen“, schrieb er, denn die Arbeitsmigranten würden zunehmen.
Für diese „Überflüssigen“ (Zygmunt Baumann) gibt es keine „freien“ Länder mehr zum Auswandern und in ihren Heimatländern nur immer prekärer werdende Jobs. „Die Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen“ sind deswegen laut Neal Ascherson zu Subjekten der Geschichte geworden. Das heißt: „Die Fackel der Befreiung“ ist von den sesshaften Kulturen an „unbehauste, dezentrierte, exilische Energien“ weitergereicht worden, „deren Inkarnation der Migrant“ ist – so der Exilpalästinenser Edward Said. Die Plätze, Märkte, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte werden durch sie zu neuen „Agoren“ (Versammlungsplätze in der griechischen Polis), ansonsten sind sie jedoch „unfassbar“ (Aperoi), wie Herodot die (skythischen) Nomaden nannte.
In der besonders von Abwicklung betroffenen Industriestadt Berlin gibt es auch besonders viele Aperoi – und auf sie orientierte Künstlerinitiativen: Neben den Wagenburgen der Rollheimer unter anderem das Institut für Nomadologie der Weißenseer Kunststudenten. 2005 gab es am Haus der Kulturen der Welt ein „Nomad Plaza“ von koreanischen Schamanenkünstlern, in der Humboldt-Universität den ersten Sinti-und-Roma-Kongress der EU sowie mehrere „No Border“-Aktionen unter Beteiligung des „Bundesverbands Schleppen & Schleusen“. Nirgendwo sonst gibt es so viel „Fluchthilfe-Know-how“ wie in Berlin, meinte der Jesuit Christian auf dem „1. Fluchthelfer-Kongress“ in Kreuzberg.
Vom berühmtesten Fluchthelfer, Oskar Huth, veröffentlichte der Merve-Verlag einen „Überlebenslauf“, und das „Schlepperbanden-Museum“ am Checkpoint Charlie ist die bestbesuchte Dauerausstellung der Stadt. Hier erfand die Dramaturgin Hannah Hurtzig 2003 auch die „Mobile Akademie“, mit der gerade der Tanzkongress 2006 eröffnet wurde. Und Ende Mai erscheint anlässlich des 800-jährigen Jubiläums des größten Nomaden-Heerführers Dschingis Khan die erste mongolische Zeitung auf Deutsch: Super-Nomad – initiiert von Dondog Batjargal, der in Ulaanbaatar die Jugendzeitung Super herausgibt, an die diese deutsche Nomadenzeitung angebunden ist.
Umgekehrt gibt es seit 2003 in Ulaanbaatar ein Restaurant namens Modern Nomads – für die in der Mongolei studierenden Westeuropäer. Im selben Jahr stellte ein Berliner Architekt am Tacheles in Mitte ein Super-Containerensemble auf – als Wohnmodell für nomadische Gutverdiener. Für die Schlechtverdiener ist jetzt dagegen die Zeit, sich ihre alten Lastwagen, Zirkuswagen und Lkw-Anhänger zu „Mobile Homes“ auszubauen. Sie gehen auf die mongolisch-tatarischen Planwagen zurück, aus denen später die erstmalig mit Pistolen ausgerüsteten Hussiten bäuerliche Kampfwagen machten. Die partisanischen Kosaken rüsteten ihre „Tatschankas“ im Fall eines Aufstands mit leichten Kanonen und Maschinengewehren aus. Nach dem Angriff wandelten diese „Unfassbaren“ sie wieder in harmlose Bauernwagen um.
Die Siedlertrecks in Amerika und Südafrika taten es ihnen später nach. Heute haben sich in den diversen Rebellenarmeen die „Pick-up-Trucks“ durchgesetzt, wie der Kriegsforscher der Humboldt-Uni, Herfried Münkler, beobachtete. Kein Wunder, dass sich beim Berliner Mop (den Mobile People) gerade die NVA-Laster großer Beliebtheit erfreuen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen