: Erzähltes Grauen
Ein Filmprojekt der Technischen Hochschule Aachen dokumentiert vergessenes NS-Verbrechen
Im Film sind sie nicht zu sehen, im Kopf sind die Bilder trotzdem – und die Szenen aus dem Jahr 1944, von denen die Zeitzeugen berichten, sprechen eine verstörende Bildsprache: Da erzählt die ältere Dame, zum Zeitpunkt des Kriegsverbrechens neun Jahre alt, wie bei einem Todesmarsch eine entkräftete Mutter mit mehreren Kindern ein lebendes Baby einfach niederlegt und zurücklässt. Eine andere Überlebende, damals sieben Jahre alt, erzählt, dass die Menschen so durstig waren, dass sie sogar aus Pfützen tranken, in denen Leichenteile lagen.
In der vergangenen Woche wurde „Ozarichi 1944“ in der Rheinisch-Westfälisch Technischen Hochschule Aachen (RWTH) uraufgeführt. Der 50 Minuten lange Film dokumentiert ein kaum bekanntes Verbrechen der deutschen Truppen. Zwischen dem 12. und 17. März 1944 deportierten die 9. Armee der Wehrmacht und SD-Einsatzgruppen rund 50.000 Zivilisten, in Einsatzberichten als „unnütze Esser“ eingestuft. Alte, Kranke, Frauen und Kinder wurden in den berüchtigten Todesmärschen in drei „Endlanger“ getrieben, in denen die Deutschen zudem Typhus-Kranke unter sie mischten.
Die durch Minenfelder abgeschotteten Lager – das größte davon lag in der Nähe der weißrussischen Kleinstadt Ozarichi – befanden sich kurz hinter der deutschen Frontlinie: Sie sollten bei einer Frontrücknahme den Vormarsch der Roten Armee zu verzögern. Am Ende befreiten sowjetische Truppen die drei Lager. Ungefähr 9.000 Menschen waren gestorben – hingerichtet, entkräftet oder an Typhus.
„Traurig, unbequem und ungewöhnlich“ nennt Projektleiter und Militärhistoriker Christph Rass den zwischen 2003 und 2006 entstandenen Film. Die Projektarbeit von Studierenden und Wissenschaftlern der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der RWTH entstand in Kooperation mit der weißrussischen Staatsuniversität Minsk sowie der Universität Köln.
Die Schilderungen der Zeitzeugen macht den Film eindringlich. Sie berichten an den alten Tatorten von den Gräueln und nicht in septisch ausgeleuchteten Filmstudios. Eine Überlebende traf das Drehteam zufällig, sie erzählte spontan in ihrem Garten. Die leicht verwackelte Kamera unterstreicht dabei ihre emotionale Erregtheit.
Dort, wo bewegte Originalbilder fehlten, ließ sich die Projektgruppe nicht auf den Schwindel nachträglich gedrehter Spielfilmszenen ein. „Ozarichi 1944“ blendet lieber Standbilder ein, oft von schlechter Qualität, aber das Grauen wirklich darstellend. Und so herrschten denn auch am Ende des Films Dunkelheit und Stille im Saal, unterbrochen von dem einen oder anderen Husten und Seufzen. Knapp 30 Sekunden dauerte es, ehe der Applaus für die Projektgruppe dann doch langsam einsetzte. MICHAEL KLARMANN
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