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Mythen in den Bevölkerungsdebatten

Wer sagt eigentlich, wann ein Territorium über- oder unterbevölkert ist? Ein Blick auf die überholten Gegensätze in den Studien zur demografischen Lage der Nation

In den Siebzigern erklärte jeder Pfeifenhans die missliche Weltlage mit der Überbevölkerung. Lange her!

VON CORD RIECHELMANN

Dass ein Zusammenhang zwischen der Bevölkerung und der Natur existiert, ist eines der zentralen Theoreme des 19. Jahrhunderts. Mit der Herausbildung der Nationalstaaten und der sie tragenden Nationalökonomien wird der Platz zum Leben, der oikos, eng. Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll, wird Bertolt Brecht später dazu sagen. Die Esser sind vollzählig, und alle die Nachkommen müssen sich gehörig zusammennehmen, dass man sie in der Küche duldet. Denn die Natur meint hier auch den Reichtum oder die Armut an Rohstoffen.

Charles Darwin liefert für diesen Befund den naturwissenschaftlichen Grund. Er verrechnete die Möglichkeit des exponentiellen Wachstums von Populationen mit der tatsächlich zu beobachtenden relativen Konstanz der Populationsgrößen – und für ihn war dabei klar, dass allein die Knappheit der Ressourcen zum Nichtwachstum führte. Unter diesen Voraussetzungen ist der Kampf ums Dasein unvermeidlich. Nun zeigte sich aber schon dem in der Kutsche von seinem Landsitz in die Londoner Gentlemen Clubs fahrenden Darwin, dass es eine Spezies gibt, für die sein Postulat nicht zu gelten schien. Die Massen bettelnder Menschen an den Straßen waren nicht zu übersehen, und trotz knapper Ressourcen wurden sie immer mehr. Im planetarischen Maßstab wuchs die Menschheit unaufhörlich und tut es bis heute – ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht.

„Volk ohne Raum“ hieß eines der politischen Schlagwörter, die aus der Bevölkerungszunahme im endlichen Raum der Nationalstaaten destilliert wurden. Die blutige Spur, die im 19. und 20. Jahrhundert hinter dieser Parole durch die Welt gezogen wurde, ist bis heute unübersehbar. Raum und Volk zusammenzudenken verlor nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest in den heute so genannten reichen Ländern an Reputation. Was aber blieb, war die Verbindung von der Endlichkeit der Welt, also der Knappheit der Ressourcen, und der dazu in Widerspruch gedachten Weltbevölkerungsentwicklung.

Noch in den Siebzigerjahren erklärte einem jeder Pfeifenhans die missliche Weltlage mit der Überbevölkerung. Neulich traf ich durch Zufall einen von damals wieder. Er arbeitete als Beamter in einer Bodenforschungsbehörde, hatte vier Kinder, und schon wieder war alles knapp, düster und am Ende: das Erdöl, die Luft und die Renten. Die Diagnose war dieselbe wie vor 30 Jahren, nur die Gründe hatten sich verkehrt; waren es früher zu viele Menschen, so waren es heute zu wenig. Das Gespenst der aussterbenden Deutschen hatte ihn erfasst. Das war insofern für ihn besonders bitter, weil er ja mit seinen vier Kindern wirklich etwas gegen das Ende eines Volkes – und allerdings auch gegen seine eigene vergangene Rede von der Überbevölkerung – getan hatte.

Der Bekannte mag ein Einzelfall sein, seine Verwirrung aber ist es nicht. Sie lässt den Schluss zu, dass die kausale Beziehung zwischen der Anzahl der Menschen und der Weltlage keine logisch zwingende ist, sondern eine eventuell sogar willkürlich-mystische. „Trotz aller Techniken, die ihn besetzen, und dem ganzen Wissensnetz, das ihn bestimmen und formalisieren lässt, ist der zeitgenössische Raum wohl noch nicht gänzlich entsakralisiert (im Unterschied zur Zeit, die im 19. Jahrhundert entsakralisiert worden ist)“, schreibt Michel Foucault in einem Text mit dem Titel „Andere Räume“. Sakralisierung heißt hier, dass die historisch bedingten und damit veränderbaren Qualitäten von Gebieten und Gegenden unveränderbar als territorialer Käfig vorausgesetzt werden, ohne die nicht nur durch Kommunikationstechnologien veränderten Beziehungen zwischen Räumen gewissermaßen „einzuräumen“. Wie viel stumme Sakralisierung sich durch die aktuellen Raum- und Bevölkerungsdebatten zieht, kann man an einer kürzlich erschienenen Bestandaufnahme der Deutschen nachvollziehen.

Die vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung herausgegebene und bei dtv verlegte „Demografische Lage der Nation“ ist eine klar gegliederte und angenehm zu lesende Aufbereitung der Bevölkerungs- und Wirtschaftsdaten der Bundesländer. Von Schleswig-Holstein und Hamburg bis Bayern wird in manchmal salopp formulierten Kapiteln die Lage resümiert und versucht, an Beispielen blühender Regionen in Bayern, Baden-Württemberg und dem südhessischen Rhein-Main-Gebiet – einer der reichsten Regionen Europas! – einen Ausweg aus der Krise zu weisen. Vorangestellt sind den Regionalanalysen zwölf Kapitel, die die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen. Von „Ohne Kinder keine Zukunft“ über „Eine neue Unterschicht verlässt die Schulen“ oder „Arbeit ist die beste Integration“ bis „Nach dem Mensch kommt der Wolf (oder zumindest der Luchs)“ wird dort in knapper Form all das zusammengetragen, was man überall schon mal gehört hat.

Doch hat dieser Band mit dem Untertitel „Wie zukunftsfähig ist Deutschland?“ auch seine Probleme. So möchte er (wie mein Bekannter) von einer forcierten Zerstörung der Gesellschaft erzählen – nur bleiben die Gründe, die die Zerstörung forcieren sollen, unklar. Denn auch wenn der Bericht mit manchen Mythen, wie der vom Kinderreichtum am Berliner Prenzlauer Berg, aufräumt und auch sagt, wie es zu dem Mythos vom Gebärparadies kommen konnte, so arbeitet er doch oft mit Voraussetzungen, die nicht weniger mythisch sind.

Wenn es etwa im Kapitel zu Schleswig-Holstein und Hamburg heißt: „Stadtstaat oder Flächenland? Nur einer kann gewinnen“, dann lässt sich das nicht aus den dargebotenen Daten ablesen. Die Vorstellung, dass immer einer gewinnen muss, kommt von außen aus einer Weltanschauung, die Schleswig-Holstein und Hamburg nicht genetisch eingeschrieben ist. Genauso wird im ganzen Bericht nicht einmal explizit auf dem Widerspruch von der Mobilisierung qualifizierter Arbeitskräfte, um sie an bestimmten Standorten zu konzentrieren, und die gleichzeitige flächendeckende Demobilisierung regulärer Arbeit hingewiesen.

Daten enthält die Lage der Nation für beides, zusammengedacht werden die Phänomene aber nicht. Auch die guten oder schlechten Standorte bleiben merkwürdig unbestimmt oder werden mit Phantasmen aufgeladen. So hat beispielsweise die Behauptung, dass dort, wo der Mensch geht, die Natur zurückkommt – wie es angeblich in Mecklenburg-Vorpommern geschehen soll –, bereits Harald Schmidt so affiziert, dass er in einem Interview das Kommen der Luchse bejubelte. Den Zusammenhang von gehenden Menschen und kommender Natur gibt es nur leider nicht.

Mensch und Natur lassen sich nicht trennen, schon gar nicht hierzulande. Das hängt damit zusammen, dass die Jahrtausende alte Besiedlung Europas Wechselwirkungen hervorgebracht hat, die sich in einfachen Dichotomien wie Mensch und Natur nicht mehr beschreiben lassen. Die im Bericht behauptete Regeneration von Brachflächen und der folgenden Rückkehr der Artenvielfalt stimmt so nur kurzfristig. Vorher genutzte Brachflächen zeigen nach dem Abgang der sie bearbeitenden Menschen eine charakteristische Entwicklung: In der ersten Zeit nimmt die Artenvielfalt zu, um dann in der Folge der Nichtbearbeitung unter den Ausgangswert zur Nutzungszeit zurückzufallen.

In Ostpolen im Biebrza- und im Narew-Nationalpark hat man damit bereits Erfahrungen sammeln können. Nachdem auch durch die EU-Agrarpolitik die Kleinbauern in diesen Regionen ihre Tätigkeit einstellten, hat man dort in den Flusslandschaften einen erheblichen Artenrückgang feststellen müssen. Seit die Wiesen in den Auen nicht mehr gemäht werden, fehlen Wiesenbrütern die freien Flächen, die sie zum Leben brauchen; Pflanzen, die nicht hoch wachsen, finden keinen Zugang zur Sonne mehr und so weiter. Artenvielfalt hängt in unseren Breiten eben auch mit menschlichen Nutzungen zusammen. Die artenreichen Räume, die sich die Demografen von der Abwanderung der Menschen erhoffen, gibt es ja bereits. Allerdings eher in Hamburg und Berlin, zwei Regionen, die sehr wohl von Menschen genutzt werden.

Die „Lage der Nation“ analysieren die Demografen häufig in Gegensatzpaaren, die es, so wie sie von ihnen behauptet werden, nicht mehr gibt. Das gilt auch für die Beschwörung der höheren Bildung und Qualifikation als Ausweg aus der Krise. Sicherlich ist es hilfreich, programmieren zu können, wenn man in der IT-Branche um Stuttgart einen Arbeitsplatz sucht. Daraus folgt aber nicht, dass man auch Arbeit bekommt, wenn man programmieren kann. Zumal der Bericht überhaupt keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass die öffentlichen Kassen leer sind und – bei dem Preis, den Bildung kostet! – man auch nicht damit rechnen sollte, noch welche umsonst zu bekommen.

„Vielleicht ist unser Leben noch von Entgegensetzungen geleitet, an die man nicht rühren kann, an die sich die Institutionen und Praktiken noch nicht herangewagt haben. Entgegensetzungen, die wir als gegeben akzeptieren: zum Beispiel zwischen dem privaten Raum und dem öffentlichen Raum, zwischen dem Raum der Familie und dem gesellschaftlichen Raum, zwischen dem kulturellen Raum und dem nützlichen Raum, zwischen dem Raum der Freizeit und dem Raum der Arbeit. Alle diese Gegensätze leben noch von einer stummen Sakralisierung“, schreibt Foucault in dem oben erwähnten Text. Man kann den Raum der Nation und den der Natur hinzufügen.

Entsakralisierung des Raumes heißt aber auch, ihn ohne seine darwinistischen Knappheitsschlacken zu denken, die allesamt den „staatlichen Rationalismen“ (Jacques Derrida) des 19. Jahrhunderts entstammen – Rationalismen, die ihre Operationen auf den Staat beziehen; und den Staat kann man nur in Abgrenzung zu einem anderen Staat denken. Den Rationalismus des planetarischen Raumes gibt es (noch) nicht. Möglicherweise wird man auf ihn warten müssen, bevor man Demografen wirklich glauben kann.

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