Unrasiert und fern der Heimat

POTPOURRI Im Ballhaus Naunynstraße hatte das musikalisches Schauspiel „Lö bal Almanya“ Premiere, das darin gipfelte, Necla Kelek in das Klavier einzusargen

Menschen in altmodischen Klamotten auf Stühlen, regungslos. Über fünf Minuten lang nur das, nachdem sich der Vorhang zu „Lö bal Almanya“ gehoben hat, der neuen Inszenierung von Nurkan Erpulat, für die er zusammen mit dem Autor Tuncay Kulaoglu auch den Text zusammengestellt hat. Zeit genug, ausführlich die alte Ansicht des Ballhauses Naunynstraße zu studieren, die an der Kulissenwand hängt, unweit eines Bildnisses des Kaiser Wilhelm (oder so), um sie mit der realen Umgebung zu vergleichen. Interessant. Und jetzt? Einer steht auf und geht zum Flügel, um ekstatisch darauf herumzuhämmern. Dann versinken sie wieder in Starre, bis jemand leise einatmet und alle in schönem Unisono singen „Unrasiert und fern der Heimat“. Die nächste Liedzeile gibt es erst ein paar Minuten später.

Ja, wo sind wir denn hier? Fast hofft man, ins zauberische Zeitlupentheater des Christoph Marthaler geraten zu sein, der einst mit „Murx den Europäer“ Maßstäbe setzte im Schauspieler-auf-Stühlen-sitzen-Lassen und in der Dekonstruktion des Deutschtums und vor allem deutschen Liedguts durch dessen Darbietung. Und man kann Nurkan Erpulat, der als Regisseur ein ziemlich sicheres Gespür dafür hat, wann der Zuschauer sich auch mal ein wenig strapazieren lässt, nicht vorwerfen, dass er das Marthaler-Prinzip lediglich stumpf nachahme. Rein technisch ist es ein virtuoser Theaterabend.

Zeitlupenhafte Ensembleauftritte wie der vom Anfang wechseln ab mit komödiantischen Szenen, mit endlos überdehnten Monologen, mit überdrehter Satire. Dazwischen, immer wieder, Singen und Klavierspielen. Auf-Stühlen-Sitzen sowieso. Großartige Schauspieler dürfen zeigen, was sie können; auch mit voller Wucht gegen eine Wand laufen. Da ist viel Schönes dabei.

Das kann man wohlwollend goutieren und dabei doch zunehmend unruhig werden. Ist man nur missgelaunt, weil man über zweieinhalb Stunden ohne Pause in der Mitte der Stuhlreihe gefangen gehalten wird? Aber das würde einem, ehrlich, nichts ausmachen, wenn frau denn wüsste, wofür die Entbehrung. Schon wirklich lustig, dieser „Orientierungskurs“ für Leute, die den Einbürgerungstest bestehen wollen, in dem eine hyperaktive Blonde einen Haufen phlegmatischer Schwarzhaariger im Multiple-Choice-Verfahren auf Grundlagen deutscher Kultur trimmen will. Schon aufregend kühn im dramaturgischen Zugriff die Szenen, in denen aus dem hastigen Rencontre des Migranten mit der Braut aus der Heimat Generationen von Postmigranten geboren werden. Doch immerhin – wie heißt es beim deutschen Dichter Fontane, der vielleicht auch schon hier im Ballhaus zu Gast war: Das ist ein weites Feld. Zu weit vielleicht für diesen einen Abend. Zu schwierig, das Themenfeld „Einwanderung und Integration in Deutschland“ zu bannen in ein Potpourri szenischer Auftritte sehr unterschiedlicher Verfremdungsgrade, deren Bezugsrahmen sich mal allgemein symbolisch gibt, dann wieder auf zeitpolitische Ereignisse fokussiert und sich dabei auch noch, das ist heikel, in der schwierigen Kunst des politischen Kabaretts versucht.

Satire kann man ja überhaupt furchtbar leicht missverstehen. Der Abend wird mit einer nicht enden wollenden Necla-Kelek-Parodie beschlossen, die in ihrer hysterischen Drastik die Grenzen des guten Geschmacks und wahrscheinlich sogar dessen, was Satire dürfen sollte, überschreitet und damit endet, dass die Islamkritikerin in den Flügel („Das ist ein Steinway!“, ruft der Pianist entrüstet) eingesargt wird. Da muss ich mal ganz doof fragen: Wie meint ihr denn das jetzt? Ich hab’s nämlich echt nicht verstanden. Und war Frau Kelek zur Premiere eingeladen?

– Das Theater, so denkt es sich allzu leicht, muss ja nichts erklären. Es zeigt nur, was ist, weiter nichts. Aber das Hirn, das unflexible, das sucht immer überall nach Bedeutung.

KATHARINA GRANZIN

■ Nächste Vorstellungen: 14. bis 16. 5., 20 Uhr