Ist der Fiskus zu gierig?

STAATSKNETE Die Steuereinnahmen steigen immer weiter. Die künftige Regierung könnte die Abgaben der Bürger senken – oder aber die Steuern trotzdem erhöhen

Grob gesagt, nimmt sich der Staat immer gut ein Drittel, knapp zwei Drittel behalten die Bürger

VON HANNES KOCH

BERLIN taz | Über die neue Regierung zu verhandeln ist in diesem Jahr viel einfacher als früher. Seit mehreren Jahren verbuchen die Finanzminister steigende Einnahmen. Ob Rot-Grün 2002, die Große Koalition 2005, Union und FDP 2009 – immer ging es auch darum, Löcher zu stopfen, zu sparen.

Davon redet bei den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen zwischen den beiden großen Parteien kaum jemand. Wieder einmal weist die Steuerschätzung zusätzliche Einnahmen in Milliardenhöhe aus. Der Staat dürfte bis 2017 insgesamt 14 Milliarden Euro mehr einnehmen als bislang erwartet. Das ist das Ergebnis der Herbstprognose des Arbeitskreises Steuerschätzung, die das Bundesfinanzministerium am Donnerstag in Berlin bekannt gab. Von dem Einnahmeplus profitieren in erster Linie Länder und Kommunen.

Die Mehreinnahmen liegen im Trend. In den vergangenen Jahren waren die Staatseinnahmen sogar schneller gestiegen als die Wirtschaftsleistung. Ergebnis: Deutschland braucht fast keine neuen Schulden mehr. Die Finanzminister können zum ersten Mal seit gefühlten 100 Jahren darangehen, die Schuldenlast, die inzwischen bei gut 2 Billionen Euro liegt, zu verringern.

Damit bekommt eine alte Debatte neue Aktualität. Mancher fragt sich: Wäre es jetzt nicht mal an der Zeit, den Bürgern etwas zurückzugeben, anstatt die Steuern, Sozialabgaben, Gebühren, Umlagen – oder wie die staatlichen Einnahmen auch immer heißen – dauernd zu erhöhen? Schröpft der gierige Staat seine Bürger, wie es angeblich schon immer seine Art war?

Anders als die steigenden Steuereinnahmen der vergangenen Jahre vermuten lassen, wird der Staat aber nicht immer gieriger. Während der zurückliegenden drei Jahrzehnte ist die Abgabenquote nicht gestiegen. Diese Größe gibt die Belastung der Bürger mit Steuern und Sozialbeiträgen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt an. 1980 lag sie bei 38,6 Prozent. Von 100 Euro Wirtschaftsleistung nahm der Staat also 38,60 Euro durch Steuern und Sozialabgaben ein und verteilte sie um. 2012 betrug die Abgabenquote nach Angaben des Bundesfinanzministeriums 38,4 Prozent. Zwischen 1980 und heute gab es keine große Änderung. Mal ging es ein bisschen hoch, mal ein bisschen runter. Grob gesagt, nimmt sich der Staat immer gut ein Drittel, knapp zwei Drittel behalten die Bürger. Aber auch von dem einen Drittel, das der Staat beansprucht, bezahlt er ja Dienstleistungen, die der Allgemeinheit zugutekommen.

Dass sich manche Bürger trotzdem überfordert fühlen, hat mit der veränderten Lastenverteilung zu tun. Für Bezieher hoher Einkommen und Besitzer großer Vermögen sank die Steuerlast in den vergangenen Jahrzehnten. Dementsprechend ging der Anteil der Steuern auf Einkommen und Vermögen im Verhältnis zu allen Steuereinnahmen zwischen 1986 und 2012 um 9 Prozent auf 49,9 Prozent zurück. Umgekehrt aber stieg der Anteil der Umsatz- und Mehrwertsteuer um 8 Prozent auf 32,4 Prozent. Unter anderem die höhere Mehrwertsteuer (heute bis zu 19 Prozent) hat die Ausfälle bei den Einkommen- und Gewinnsteuern teilweise kompensiert. Ein Problem dabei: Viele Leute, die so wenig Geld haben, dass sie keine Einkommen- und Kapitalsteuern zahlen, werden mittels der Mehrwertsteuer jetzt stärker zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben herangezogen.

Und wie sieht es bei den Ausgaben aus? Dauernd müssen sich Politiker und Regierungen des Vorwurfs erwehren, Milliarden Euro zu verschwenden und gegen die Interessen der Bürger zu verwenden. Interessant ist jedoch, dass gerade ein besonderer Posten stark zunahm: die soziale Sicherung. 1980 gaben die Regierungen von umgerechnet 379 Milliarden Euro Gesamtaufwendungen 173 Milliarden Euro für Soziales aus (45,5 Prozent). 2010 waren es rund 626 von insgesamt 1.100 Milliarden Euro (56,5 Prozent). Der Sozialstaat hat stark zugelegt – durch die Finanzierung der Wiedervereinigung aus der Sozialversicherung, mehr Alte, die Rente bekommen, und zusätzliche Leistungen wie die Pflegeversicherung. Weil die Einnahmen unter anderem dafür oft nicht ausreichten, wuchs die Staatsverschuldung mittlerweile auf über 2 Billionen Euro. Aus diesen Befunden könnten die Koalitionsunterhändler von Union und SPD nun unterschiedliche Rückschlüsse ziehen.

Erste Variante: Steuern runter!

Sie bemühen sich, die Abgabenquote zu senken, etwa indem die Union ihr altes Ziel durchsetzt, die Mittelschicht von den automatischen Steuererhöhungen, der sogenannten kalten Progression, zu entlasten. Teilweise würde die SPD da wohl mitgehen. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, den Beitrag der Beschäftigten für die Rentenversicherung zu reduzieren. Dies schreibt das Gesetz wegen der augenblicklichen hohen Überschüsse in der Rentenversicherung auch vor. Eventuell wird die Große Koalition aber beschließen, das Gesetz zu ändern, den Rentenbeitrag stabil zu halten und mit dem Geld eine großzügigere Sozialleistung zu finanzieren: die höhere Mütterrente.

Zweite Variante: Weiter so!

Die Koalition versucht, mit den steigenden Einnahmen auszukommen. Die einzelnen Verhandlungsgruppen von Union und SPD formulieren zwar bereits Ausgabenwünsche im zweistelligen Milliardenbereich, CSU-Chef Horst Seehofer und die CDU-Vorsitzende Angela Merkel stellen aber alles unter „Finanzierungsvorbehalt“. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat errechnet, dass die höheren Staatseinnahmen nicht nur reichen, um die Schulden zu reduzieren. „Kräftige Investitionen in die Infrastruktur und auch hohe Ausgaben im Bildungsbereich kann man ohne Steuererhöhungen stemmen“, sagt DIW-Ökonom Ferdinand Fichtner.

Dritte Variante: Steuern hoch!

Die SPD plädiert dafür, die Staatseinnahmen zusätzlich anzuheben. Sie will dies erreichen durch steigende Steuern auf hohe Einkommen, Gewinne und Vermögen. Schützenhilfe erhielt die Partei vom Institut für Makroökonomie (IMK). Dessen Chef Gustav Adolf Horn analysiert eine „strukturelle Unterfinanzierung des Staates“. Jährlich fehlten in Deutschland rund 30 Milliarden Euro Investitionen in Schulen, Verkehrswege und Datenleitungen. Dieser Mangel sei ein Ergebnis der Steuersenkungen zugunsten hoher Einkommen während der vergangenen Jahrzehnte. Die gegenwärtigen Staatseinnahmen reichten nicht aus, um ihn zu beheben, so Horn. Die Union will Steuererhöhungen dagegen unbedingt vermeiden.