: Flickenteppich mit Zugverkehr
Während im Hauptbahnhof die letzten Glasscheiben poliert werden, ist am Ostkreuz die Zeit stehen geblieben. Wer auf dem maroden Bahnhof arbeitet, hat sich schon längst an Provisorien gewöhnt
Von Martin Reischke
Wer am Ostkreuz zum ersten Mal aus der S-Bahn steigt, könnte meinen, der Kapitalismus habe gerade erst Einzug gehalten in der einstigen Hauptstadt der DDR. Der Bahnhof ist alt und marode, seit den 1920er-Jahren hat er sich kaum verändert. Rolltreppen oder Fahrstühle sucht man vergebens. Nur die kulinarische Versorgung ist schon auf Weltniveau: Wo früher ein einsamer Mitropa-Kiosk stand, drängen sich dicht an dicht die Verkaufsstände. Baguettes und Bratwurst gibt es zu kaufen, Brezeln, Obst, Pizza und Döner, aber auch Zeitungen und Blumen. Seltsam deplatziert wirken die hellen Buden mit ihren Leuchtschriftzügen auf dem grauen schäbigen Bahnsteig. Ursprünglich mit kleinen quadratischen Steinen gepflastert, ist er heute ein Flickenteppich aus notdürftig ausgebesserten Schlaglöchern.
Täglich hasten 140.000 Menschen über die ausgetretenen Stufen hoch zur Ringbahn und hinab zu den Zügen Richtung City oder Osten. Sie drängeln sich auf den Treppen, wuchten keuchend und schwitzend Kinderwagen oder Gepäck die Stufen empor und schimpfen über verspätete Züge. Rollstuhlfahrer versuchen am besten gar nicht erst, hier umzusteigen – ohne Fahrstuhl wird die Treppe für sie zum unüberwindbaren Hindernis. Das Ostkreuz ist öffentlicher Nahverkehr zum Abgewöhnen.
Horst Podlesch kann trotzdem nicht davon lassen: „Ich sehe die Züge und die Reisenden, ich höre die Durchsagen – das befriedigt mich“, sagt der 72-jährige Rentner. Kein Wunder, denn die Bahnhofsatmosphäre begleitet Podlesch in seinem täglichen Leben schon über ein halbes Jahrhundert. 1952 hat er bei der S-Bahn angefangen, dort eine Ausbildung gemacht und ist dann Zugführer geworden. Vor sieben Jahren ging er in Rente. Seitdem kommt er dreimal pro Woche, um für ein paar Stunden im Crobag-Shop auszuhelfen. Nicht im Verkauf, sondern „als Mann für alle Fälle“: Er putzt und schrubbt, bringt Müll weg, holt neue Ware. „Seit ich den Bahnhof kenne, ist aus dem Ostkreuz das Rostkreuz geworden“, sagt Podlesch. Überall werde nur noch geflickt und ausgebessert – „da waren sie zu DDR-Zeiten mehr hinterher“.
In den 50er-Jahren muss der Umsteigebahnhof im Vergleich zu heute geradezu beschaulich gewirkt haben: „Wir haben seitdem viele Strecken dazubekommen, und durch die neuen Wohngebiete im Osten sind mehr Menschen unterwegs“, sagt Podlesch. „Wie das Chaos auf den Straßen, so ist es auch hier – jeder hat’s eilig, jeder schubst.“
Hinter ihrem Obststand auf dem unteren Bahnsteig wartet Gabriele Herbst auf Kundschaft. Äpfel, Birnen oder Bananen kann man bei ihr immer kaufen – auch lange nach Einbruch der Dunkelheit: Der Stand ist rund um die Uhr besetzt, sogar nachts, wenn kaum jemand Hunger hat auf Obst. Schuld daran sind die Sicherheitsrichtlinien der Bahn. Denn der Stand darf nicht zugesperrt oder zu einem festen Kiosk ausgebaut werden, weil sonst die Bahnhofsaufsicht keine freie Sicht mehr auf die Verbindungstreppe zum oberen Bahnsteig hätte.
Also hat man sich auf einen Kompromiss geeinigt: Solange alles bleibt, wie es ist, darf der Obststand in exponierter Lage am unteren Ende der Treppe stehen bleiben. Für Gabriele Herbst heißt das, viermal pro Woche jeweils zehn Stunden im Freien auszuharren – im Sommer wie im Winter.
Die geflickten Bahnsteige, die ausgetretenen Treppen, der Obststand, der nicht schließen darf, wenn er überhaupt noch öffnen will: Das Ostkreuz ist ein Sammelsurium von Provisorien, die über die Jahre zu Dauerlösungen geworden sind. „In den acht Jahren, die ich hier bin, hat sich der Bahnhof nicht verändert“, sagt Herbst.
Natürlich interessiert auch sie sich für die geplanten Sanierungsarbeiten – immerhin könnten sie ihren Job gefährden. Denn mit dem Umbau des Ostkreuzes wird wohl auch die disparate Sammlung der Verkaufsstände verschwinden. „Es wird sicher die Möglichkeit geben, einen Kiosk einzurichten“, sagt Bahnsprecher Michael Baufeld. „Aber es muss Stil haben.“ Genaue Pläne gebe es noch nicht.
Die Verkäufer fühlen sich allein gelassen: „Von der Bahn teilt uns niemand etwas mit, das läuft alles nur über Mundpropaganda“, sagt Herbst. Doch die fällt ziemlich unterschiedlich aus. Auf den Umbau angesprochen, schüttelt ein Sicherheitsbeamter der Bahn nur ungläubig den Kopf: „Nicht mehr in diesem Jahr.“ Andere vermuten, dass es nach der WM losgehe. „Wir haben schon gar nichts mehr auf den Umbau gegeben, aber jetzt glauben wir es langsam“, sagt Gabriele Herbst. Tatsächlich tut sich seit ein paar Monaten immer mal wieder etwas am Ostkreuz. Wo später die neue Kabeltrasse verlaufen soll, wurden zu Jahresbeginn schon Bäume gefällt und Sträucher entfernt.
Auch Gabriele Herbst meint, dass etwas geschehen muss mit dem maroden Bahnhof. Aufzüge müsste es endlich geben und Rolltreppen – und zentralere Toiletten. Denn so dicht gedrängt die Verkaufsbuden stehen, so weit ist für Gabriele Herbst der Weg zur nächsten Toilette. Ganz am Ende des Bahnsteigs, wohin sich selbst zu Stoßzeiten kaum jemand verirrt, steht eine kleine Baracke. Bis dorthin muss sie laufen, wenn sie auf Toilette will – doch das ist ziemlich kompliziert: Der Obststand darf nicht unbeaufsichtigt bleiben, und zusperren kann sie ihn ja nicht. Also muss sie darauf achten, wann sie wie viel trinkt – und hoffen, dass die Kollegin vom Nachbarkiosk kurz einspringen kann, wenn sie auf Toilette muss.
Dort sitzt Erna Ulitzka in einem winzigen Aufenthaltsraum und wartet. Ein Schreibtisch steht in dem Raum, darunter liegt, von einem dunklen Handtuch zugedeckt, Ilka von der Bärenaue. Ilka ist Ulitzkas kleiner Hund. Ilka liegt unter dem Tisch und schläft, Ulitzka sitzt auf dem Stuhl und wartet. In einer Stunde beginnt ihre Schicht. Für 3,50 Euro pro Stunde arbeitet die 66-Jährige als Toilettenfrau, um ihre Rente aufzubessern. „Aber es kommen immer weniger Leute“, sagt Ulitzka, „und manche spielen verrückt wegen 50 Cent.“ Dass sie nach dem Umbau noch hier arbeiten wird, glaubt sie nicht: „Die reißen das sicher ab und stellen so ein City-Klo hin“, sagt Ulitzka. Traurig klingt das nicht, eher fatalistisch.
Auch Horst Podlesch kann sich nicht so recht entscheiden, was er von der Sanierung halten soll. Er zeigt auf die Graffiti am Crobag-Stand: „Das sieht hier aus wie im Schweinestall.“ Dann kommt er in Fahrt. „Die Leute benehmen sich vollkommen unzivilisiert, alles wird auf den Boden geschmissen.“ Aber einen sterilen Bahnhof mit blanken Fliesen und Abfallkörben aus Edelstahl kann er sich auch nicht vorstellen. „Wenn es immer nur sauber wäre, müsste ich ja gar nicht mehr kommen“, sagt Podlesch. „Je dreckiger, desto besser.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen