cannes cannes (3): Ken Loach foltert die Zuschauer, Yu Hong erzählt vom 1. Mai in Kreuzberg
Cristina Nord ist an der Croisette: Der Wettbewerb beginnt verhalten, doch die sélection officielle bietet eine Überraschung
Die ersten beiden Beiträge zum Wettbewerb tun sich ein wenig schwer. Lou Yes „Summer Palace“, der einzige Film aus Asien, folgt der Amour Fou zweier Studenten im Peking der späten 80er-Jahre. Yu Hong (Hao Lei) und Zhou Wei (Guo Xiaodong) können voneinander nicht lassen, doch miteinander sein können sie genauso wenig. Ihr Drama spielt der Film mit großer Dringlichkeit durch – in zahlreichen Sex- und Streitszenen, an die Szenen der Verzweiflung Yu Hongs anschließen. Etwas ist aus den Fugen in der Seele dieser jungen Frau, doch was das ist, erschließt sich nicht so recht.
Etwas ist aus den Fugen auch in Peking: Die Studenten protestieren, der Campus befindet sich in Aufruhr. Lou Ye blendet TV-Aufnahmen von wirklichen Demonstrationen ein, was vermutlich ein Novum im chinesischen Film darstellt. Nur bleibt auch hier – wie schon beim Seelenzustand der jungen Protagonistin – im Vagen, was auf dem Spiel steht. Lou Ye scheint angezogen von der sinnlichen Seite des Aufruhrs, Analyse ist seine Sache nicht. So unvermittelt die Proteste in den Film treten, so jäh verschwinden sie daraus: Zhou Wei geht nach Berlin, und von nun an springt „Summer Palace“ zwischen Deutschland und den verschiedenen chinesischen Städten, in die es Yu Hong verschlägt. Interessant ist dabei, wie der chinesische Regisseur auf Berlin blickt: Er entwirft die Stadt als Paradies der brachen Flächen und verfallenden Altbauten; Aufnahmen der Demonstrationen zum 1. Mai rücken den Kreuzberger Heinrichplatz in eine rätselhafte Nähe zum Platz des Himmlischen Friedens.
Ähnlich wie Lou Ye setzt auch Ken Loach auf Dringlichkeit. „The Wind that Shakes the Barley“ („Der Wind, der in die Gerste fährt“) beginnt im Jahr 1920 und erzählt vom Kampf der Iren gegen die britische Besatzung. In der ersten Hälfte des Filmes üben die britischen Soldaten enormen Druck aus: Wo immer sie ins Bild treten, schreien, schlagen, töten und foltern sie. Loach lässt diesen Druck auf den Film übergehen, was zur Folge hat, dass der Film den Druck an den Zuschauer weitergibt. Als einer der irischen Kämpfer in der Haft gefoltert wird, wird mir fast schlecht. Die Pressevorführung hat um 8.30 Uhr in der Früh begonnen, eine halbe Stunde nach dem Morgenkaffee setzt der Anblick ausgerissener Fingernägel meinen Kritikerblick außer Kraft. Ich schaue zur Seite, wo auch die anderen Kritiker zur Seite schauen.
Erst in seinen letzten 30 Minuten erreicht „The Wind that Shakes the Barley“ eine beeindruckende Radikalität, insofern sich Loach nun den Aporien des Befreiungskampfes zuwendet. Nach der Schlacht kommt das Schlimmste, und die Moral, die eben noch die Guten von den Bösen schied, vergeht so schnell wie ein Reetdach, das die britischen Soldaten bei einer ihrer Hausdurchsuchungen anzünden. In diesen Momenten ist der Film von einem Pessimismus gezeichnet, der Loachs anderen Filmen über Befreiungskämpfe, „Carla’s Song“ und „Land and Freedom“, noch fremd war.
Während der Wettbewerb eher verhalten beginnt, bietet Un Certain Régard, die zweite Programmschiene der sélection officielle, eine Überraschung: das Regiedebüt „Hamaca paraguaya“ („Paraguayische Hängematte“) von Paz Encina, das einen Tag im Leben eines Campesino-Paares schildert, dessen Sohn Soldat in einem fernen Krieg ist. Zunächst sieht es so aus, als verhalte sich ihr Film epigonal zu den Arbeiten von Lisandro Alonso oder Apichatpong Weerasethakul, von Regisseuren mithin, die ihr radikales Kino mit Hilfe europäischer Fördergremien drehen und die dementsprechend gern gesehene Gäste auf den Festivals sind. Dagegen ist nichts einzuwenden, zumal Weerasethakuls und Alonsos Filme tatsächlich herausragen, einzuwenden aber ist etwas gegen die Moden, die die globale Filmförderung produziert. Zum Glück findet die 1971 in Asunción geborene Paz Encina eine eigenständige Position, etwa indem sie bewusst mit dem Raum offscreen arbeitet, indem sie die Dialoge einspielt, während die Figuren onscreen schweigen. Genau gesetzte Wiederholungen und leichte Variationen bestimmen die Gespräche wie auch die Abfolge der statischen Kameraeinstellungen. „Hamaca paraguaya“ wird so zu einer präzis gefilmten Reflexion über das Verstreichen der Zeit und die Last des Todes – und damit zu einem ersten kleinen Höhepunkt im diesjährigen Festivalprogramm. CRISTINA NORD
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen