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Viel Raum für Experimente

Stadtentwicklungssenatorin Junge-Reyer (SPD) rückt die „kreative Klasse“ und „temporäre Nutzungen“ in den Mittelpunkt ihrer Politik. Für die Schwächeren gibt es dagegen keine neuen Ideen

von UWE RADA

Zwei Jahre ist Ingeborg-Junge-Reyer (SPD) nun im Amt, und genauso alt ist das Stadtforum 2020, das die Stadtentwicklungssenatorin ins Leben gerufen hat. Die Bilanz, die Junge-Reyer gestern zog, ist überraschend. Im Mittelpunkt aller Planungen soll künftig nicht mehr die Ansiedlung internationaler Player stehen. Vielmehr soll sich Berlin auf die „kreative Klasse“ konzentrieren.

Was darunter zu verstehen ist, ist in der Broschüre „Perspektiven für Berlin“ zu lesen, einem Parforceritt durch die Themen der Zukunft, der keinen Zweifel daran lässt: Berlin hat verstanden. „Kultur und Kulturwirtschaft“, heißt es da, „stellen für die Stadt ein erhebliches wirtschaftliches Potenzial dar. Sie beeinflussen das Image Berlins als die kreative, junge Stadt in Deutschland. Sie prägen das urbane Milieu.“ Ganz konsequent heißt es über die Stadtentwicklungspolitik der Zukunft: „Sie orientiert sich an den Ansprüchen der postindustriellen kreativen Klasse.“

Weil dazu nicht nur das urbane Milieu der Forscher und Entwickler gehört, sondern auch das der Künstler und Lebenskünstler, rücken für Junge-Reyer auch andere Themen der Stadtplanung in den Vordergrund. In der Empfehlung eines wissenschaftlichen Beirats für die Senatorin heißt es: „Besondere Bedeutung kommt temporären Nutzungen zu. Zwischennutzungen werden zu Labors der Transformation und zu ‚Freiheitsräumen‘ der Stadt.“ Eine Zwischennutzungsagentur soll deshalb in Zukunft die Ansprüche von Nutzern und Eigentümern brachliegender Flächen koordinieren.

So schön, so theoretisch. In der Praxis kann es dabei durchaus zu Nutzungskonflikten kommen, vor allem dann, wenn man die räumlichen Schwerpunkte der künftigen Stadtentwicklungspolitik berücksichtigt. Wie bereits berichtet, will sich Junge-Reyers neuer Planungschef, der aus Hamburg kommende Reiner Nagel, auf drei Schwerpunkte konzentrieren: das Umfeld des Hauptbahnhofs nebst Humboldthafen, den Flughafen Berlin Brandenburg International und den Spreeraum zwischen Friedrichshain-Kreuzberg und Treptow.

Namentlich an der Spree aber haben sich bereits jene kreativen Milieus angesiedelt, die der Senatorin so wichtig sind. Eine Entwicklung des Spreeraums, die sich an Großprojekten wie der O2-Arena des US-Investors Anschutz orientiert, gräbt dieser Szene buchstäblich das Wasser ab. Zwar versichert Reiner Nagel, dass es an der Spree auch weiterhin offene Räume geben soll. „Doch ein Großteil der Karawane“, räumt er ein, „wird weiterziehen müssen.“

Bleibt die Frage nach denen, die nicht weiterziehen können und wollen. Das Thema „soziale Stadt“ ist weiterhin wichtig, heißt es in den Empfehlungen. Doch mehr als Quartiersmanagement fällt den neuen Kreativen der Stadtplanung dazu auch nicht ein.

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