piwik no script img

Mythos in Blau-Weiß

Schalke – das ist viel mehr als nur ein Stadtteil, in dem Straßen auch schon mal nach Spielern benannt werden. Der Name steht für Religion, Opium fürs Volk. „Auf Schalke gehen“ heißt es auch, wenn man ins WM-Stadion pilgert

Keiner kommt am Gott vorbei. Außer Stan Libuda

„Wo liegt denn eigentlich Gelsenkirchen?“, fragte im Jahr 1929 der schwedische König Gustav V. beim Empfang der deutschen Nationalelf. „Bei Schalke, Majestät“, erklärte ihm Ernst Kuzorra, das Idol der Schalker Jahrhundertelf. So viel steht fest: Kein gebildeter Fußballfan im Ausland kennt die Stadt Gelsenkirchen, aber von Schalke, diesem wahnsinnigen, in Blau und Weiß gefärbten Verein (und Stadtteil), hat fast jeder schon gehört.

Gelsenkirchen also. Und Schalke. Hier leben rund 270.000 Einwohner unter dem blau-weißen Himmel, arbeitslos ist etwa jeder fünfte. Von der Malocher-„Stadt der 1.000 Feuer“ mit Kokereien, Hochöfen und Stahlwerken ist nicht mehr viel zu sehen. GE hat kein Stadtzentrum, es hat nur Teile: GE-Erle und GE-Buer, GE-Heßler und GE-Bismarck. Und eben GE-Schalke. Kein Anfang und kein Ende. Ein einziger Siedlungsbrei.

Und Schalke? Schalke ist viel mehr als ein normaler Stadtteil, der Name steht für Mythos, Religion, Opium fürs Volk. Als die Zeugen Jehovas 1973 „Nullvier – Keiner kommt an Gott vorbei“ plakatierten, schrieb ein Schalke-Fan daneben „außer Libuda“. Damit spielte er auf den genialen Dribbler und Flankengott Stan Libuda an. Mit dem Segen von Papst Johannes II., der Ehrenmitglied des Vereins war, wurde eine ökumenische Kapelle in der Arena „Auf Schalke“ eingeweiht, in der sich Fans und andere Verrückte auch trauen lassen können. Und zum 100-jährigen Geburtstag von S 04 wurde im Musiktheater im Revier ein Fußballmusical aufgeführt mit dem schönen Titel „Gott, steh auf, du bist ein Schalker“.

Bonjour Tristesse. Von der großen Fußballglorie ist am Schalker Markt an der Gewerkenstraße, heute ein trostloser Parkplatz, nicht mehr viel zu spüren. Männer mit Bierflaschen und Aldi-Tüten schlurfen über den Bürgersteig, während andere Männer zum Freitagsgebet ins Eckhaus „Verband der islamischen Kulturzentren e. V.“ strömen. Die Kneipe Schalker Markt hat die Rollläden für immer runtergelassen. Läden und Wohnungen stehen leer. Spielhalle zwischen Table-Dance-Club und Callshop, Schalker Grill Döner Kebab neben Wettbüro. Ein Beerdigungsinstitut wirbt: „Niedrige Preise“. Nur ein paar blau-weiße Fahnen und Wimpel hängen aus den Fenstern.

Ein paar hundert Meter die Kurt-Schumacher-Straße nach Norden, auch so eine gottlose Gegend, liegt die traditionsreiche Vereinskneipe am Ernst-Kuzorra-Platz mit Fotografien der Helden von gestern. Und einen Ballwurf entfernt betreibt der Schalker Fan-Club Verband – 1.280 Fan-Clubs mit 57.000 Mitgliedern – die Fan-Kneipe Auf Schalke. Vor jedem Schalke-Spiel gibt’s immer eine Riesenfete mit DJ, nach dem Spiel eine Fan-Party, und – vor dem Spiel ist nach dem Spiel – bürgerliche Küche und Hausmannskost.

WM-Fan, kommst du nach Gelsenkirchen, dann ist der Fan-Treff hoffentlich wieder geöffnet am einst potthässlichen Hauptbahnhof, dessen Modernisierung für 15 Millionen Euro in den letzten Zügen liegt. Weiter in Richtung Innenstadt schlenderst du durch die Bahnhofstraße, die von der „Werbegemeinschaft Gelsenkirchen City“ mit Bänken und Blumenkübeln, Kopfsteinpflaster und Kubusbäumen aufgehübscht wurde. „Herz im Revier voll Kraft und Zauber“ liest du schwülstig auf Werbebanderolen. Wenn du dann in der Ebertstraße in die Tourist-Information gehst, wirst du bestimmt denken, dass du im Schalker Fanshop gelandet bist. Bist du auch. Nur dass der rührige Fan-Club Verband neben Fußball-Schalke gleich das ganze touristische Gelsenkirchen mit vermarktet.

Aber die Besucher, wird dir dann die Mitarbeiterin erzählen, kommen ja vor allem wegen der Arena nach Gelsenkirchen (sie spricht das wirklich wie „Gelsenkiachen“ aus), dann noch wegen des Musiktheaters und des Wissenschaftsparks. „Auf Schalke gehen“, sagt man, wenn man ins Stadion pilgert.

Am besten fährst du bequem vom Hauptbahnhof mit der Straßenbahn 302 bis zur Haltestelle Arena, pilgerst über die Fußgängerbrücke, auf der – das bemerkst du sicher staunend – eine Solaranlage mit 835 Modulen installiert wurde. Von dort erreichst du bald die „Donnerhalle“ oder den „Tempel“, wie Fans die Arena schon mal nennen.

Auf den Halden früherer Kohlezechen wurde das 358 Millionen Euro teure Schmuckstück für 62.000 Zuschauer errichtet, mit herausfahrbarer Rasenschublade, verschließbarem Dach, verschiebbarer Tribüne und einem riesigen Videowürfel. Mit Stehplätzen inne Nordkurve für die echten Fans und Edellogen für die, sagen wir, Kaviar-Anhänger. Der Blatter Sepp, also der Fifa-Präsident, sprach ehrfürchtig von einem „Pilotprojekt für die ganze Welt“. Wenn Bayern München schon die bessere Mannschaft hat, haben die Schalker – Ehrenwort! – die schönere Arena.

8 Euro kostet die geführte Stadion-Tour, dabei werden auch die Spielerkabinen und die Kapelle, das Biertanklager und der LaOla-Club besichtigt. Im Preis inklusive ist der Eintritt ins Schalke-Museum, mit vielen Geschichten von „Triumphen und Tränen“, vom legendären Schalker Kreisel und vom FC Meineid, mit Devotionalien wie Berni Klodts WM-Souvenir und Klaus Fischers Torjägerkanone und der originalgetreuen Nachbildung des Wohnzimmers eines 150-prozentigen Schalke-Fans. Die Stichstraßen rund um die Arena sind nach verstorbenen Schalke-Legenden benannt: Ötte-Tibulsky-Weg und Herbert-Burdenski-Weg, Ernst-Kalwitzki-Weg und Stan-Libuda-Weg. Am Ernst-Kuzorra-Weg liegt die Geschäftsstelle von Schalke 04.

Manager Rudi „Zigarre“ Assauer hat aus dem traditionsreichen Fußballverein einen modernen Gemischtwarenbetrieb der Freizeit- und Eventgesellschaft gemacht. Die multifunktionale Vorzeige-Arena, in der auch Biathlonwettbewerbe, Rockkonzerte und Opernaufführungen stattfinden, hat ein attraktives Umfeld für weitere Investitionen geschaffen, dient als Jobmotor für ganz Gelsenkirchen. So wurden Anfang April in der Südkurve des benachbarten, ausgedienten Parkstadions ein Vier-Sterne-Hotel, ein modernes ambulantes Rehazentrum und das „ess null vier“ eröffnet. Im Restaurant gibt es aber keine Pommes rot-weiß, sondern gehobene mediterrane Küche. Oberbürgermeister Baranowski (SPD) könnte sich in diesem Umfeld auch gut eine Spielbank vorstellen. Und Josef Schnusenberg, der Finanzvorstand von Schalke, träumt sowieso davon, „das Orlando von NRW“ zu werden. GÜNTER ERMLICH

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen