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Liebe auf den ersten Biss

MARZIPAN Wegen der einst exotischen Zutaten kam die Süßigkeit über die Hansestädte nach Deutschland. Ein Besuch bei der J. G. Niederegger GmbH & Co. KG in Lübeck – und im Altonaer Museum, wo derzeit die Kulturgeschichte des Marzipans erzählt wird

VON THOMAS JOERDENS

Mandeln plus Zucker plus Rosenwasser ergibt Marzipan. Dessen Qualität, das wissen ebenfalls viele, bestimmt das Mischungsverhältnis von Marzipanrohmasse und Zucker. Rezeptdetails rücken Hersteller wie die J. G. Niederegger GmbH & Co. KG allerdings nicht heraus. Dafür wirbt Deutschlands bekanntester Marzipan-Produzent und selbst ernannter Branchenprimus damit, dass 100 Prozent Rohmasse in jedem „Klassiker“ stecken sowie in jedem Marzipanbrot und in jeder anderen Süßigkeit des Sortiments. Einen Einblick in die Herstellung bekommt der Gast beim Rundgang durch die Niederegger-Fabrik in einem Gewerbegebiet im Süden Lübecks, Deutschlands Marzipan-Hauptstadt.

In den Hallen, errichtet in den 1960er-Jahren, rattert, rumort, rumpelt es in jeder Abteilung anders. Überall liegt ein süßlicher Mandelkuchen-Geruch in der Luft. Nach dem Säubern, Waschen, Mahlen wird eine geheimgehaltene Mandelmischung aus dem Mittelmeerraum mit norddeutschem raffinierten Zucker maschinell zu einem Mandelkuchen in einem Verhältnis von 70 zu 30 zusammengerührt. Der Zucker ist wichtig für die weiche teigartige Konsistenz und den süßlichen Geschmack der Rohmasse. Bei gewöhnlichem Billig-Marzipan darf das Verhältnis 50 zu 50 sein.

In der warmen Mandelküche erzählt Niedereggers Pressereferentin Kathrin Gaebel ebenfalls lieber wenig als zu viel, um keine Firmengeheimnisse auszuplaudern. Sie behält für sich, wie lange und bei welcher Temperatur der Mandel-Zucker-Brei in den 20 Kupferkesseln über blauen Bunsenbrennerflammen rotiert. Während des „Abröstens“ rühren ein Dutzend Süßwarentechniker und Konditoren in der Masse, damit diese nicht anbrennt. Anschließend zischt Trockeneis durch den Saal und hüllt Teile der geräumigen Mandelküche kurz in eine Wasserdampfwolke. In zwei Kühlschiffen wird die heiße Masse zu einer lauwarmen heruntergekühlt. Diese sieht schon aus wie Marzipan und schmeckt auch so. Zumindest für den Laien. Jetzt müssen die portionierten und in Klarsichtfolie verpackten Blöcke mindestens eine Woche lagern, damit sich die Aromen voll entfalten. Pro Acht-Stunden-Schicht entstehen in dem Werk bis zu 20 Tonnen Marzipanrohmasse.

In der so genannten Anwirkerei folgt die Vollendung. Die Marzipanrohmasse wird mit einer durchsichtigen, geruchsneutralen, rosenwasserähnlichen Substanz verknetet und fertig ist das „Niederegger Marzipan“, das anschließend weiterverarbeitet wird. „Das Rezept kennen nur fünf Leute“, sagt Kathrin Gaebel vor der verschlossenen Tür zur Anwirkerei. Zutritt verboten!

Die geheime Zutat hat sich vor 207 Jahren Firmengründer Johann Georg Niederegger ausgedacht. Die Rezeptur wird seitdem unverändert weitergegeben. Inzwischen an die siebte Generation des Familienunternehmens. Um 1800 war der gebürtige Ulmer und gelernte Konditor einer von vielen Marzipanherstellern. Diese siedelten vor allem in den Hafenstädten Hamburg, Bremen, Königsberg, Reval (heute Tallinn) und Lübeck, weil dort die damals exotischen Marzipan-Zutaten umgeschlagen wurden, vor allem Mandeln und Rohrzucker. Lübeck setzte sich Ende des 18. Jahrhunderts überregional als Marzipan-Metropole durch und etablierte als Marke das „Lübecker Marzipan“, das nur in der Hansestadt und Umgebung hergestellt werden darf. Das Edelmarzipan muss aus mindestens 70 Prozent Rohmasse und 30 Prozent Zucker bestehen. Eine andere Traditions-Ware, die es in die Gegenwart geschafft hat, ist das „Königsberger Marzipan“. Es wird „abgeflämmt“ und sieht deshalb gelblich-bräunlich aus.

Die Europäer mögen Marzipan weltweit popularisiert haben. Doch erfunden haben sie die Delikatesse nicht. Sehr wahrscheinlich stammt die Leckerei aus Persien und kam im Mittelalter mit den Arabern in den Okzident, wie man in der Ausstellung „Das Brot der Engel“ im Altonaer Museum in Hamburg erfährt. Fest steht, dass das orientalische Haremskonfekt den europäischen Adel umgehend verzaubert hat: Es war Liebe auf den ersten Biss.

Für die Massen war die Süßigkeit lange unerschwinglich. Erst seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist Marzipan zur allgemeinen Volksschleckerei geworden, „allerdings auf Kosten der Qualität“, wie Museumsdirektor Torkild Hinrichsen in dem Begleitband zur Hamburger Marzipan-Schau schreibt.

Die ersten europäischen Marzipan-Hersteller waren Apotheker, die die Rezeptur ihrer süßen Pillen vor Zuckerbäckern streng geheimhielten. Diese kamen natürlich trotzdem dahinter und entdeckten, dass Marzipan nicht bloß Blähungen lindert: Die weiche Masse eignet sich hervorragend zum Modellieren. Neben den ästhetisch einfallslosen Marzipanbroten und kartoffeln formten Bäcker und Konditoren fortan aufwändige Halb- und Vollplastiken.

Deren Herstellung ist bis heute Handarbeit. In Niedereggers Tortenabteilung sitzen Frauen in weißen Kitteln, mit weißen Hauben und weißen Handschuhen an weißen Tischen und fabrizieren aus dem beigefarbenen Marzipan Weihnachts- und Schneemänner, Tannenbäume sowie Nussknacker. Außerdem entstehen Containerschiffe, sämtliche Obstsorten und Marzipantorten mit erhabenen Firmenlogos.

Ruhige Hände und Geduld seien für den Job unabdingbar, sagen die Frauen, die teilweise seit Jahrzehnten bei Niederegger arbeiten. Zum Modellieren verwenden sie vorgefertigte Formen, überschüssiges Marzipan ziehen sie vorsichtig mit einem Messer ab. Andere glätten am Nebentisch mit einem Modellierstab die Nähte der Glücksschweine und arbeiten Ohren und Backen heraus. Weiter hinten malen die Kolleginnen an den „Schminktischen“ die Marzipanfiguren mit Lebensmittelfarbe an. Die Hauptsaison für die 500 festen Niederegger-Mitarbeiter und 200 Aushilfen beginnt im September und dauert bis circa drei Wochen vor Ostern.

„Das Brot der Engel. Eine Kulturgeschichte des Marzipans“: bis 5. Januar 2014, Altonaer Museum, Altona

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