QUER DURCHS JAHRHUNDERT: GLÜHBIRNEN, ZIEGELSTEINE, TAUBENMIST: Geschichtsschichten auftürmen
VON HELMUT HÖGE
Wir bauen auf / Wir reißen nieder / Arbeit haben wir so immer wieder!“ Zum Beispiel im Friedrichshainer Kiez um den Rudolfplatz und das Berliner Glühlampenwerk. Mit dem einst viel bestaunten Osram-„Lichtturm“ an der Warschauer Brücke, eingeweiht im Jahr der Ermordung Rosa Luxemburgs, 1919, war das Werk auch architektonisch eine feste Burg. Aber schon 1945 lag alles in Trümmern. Die Osram-Herren waren geflüchtet, das von der Front heimgekehrte Arbeitervolk versuchte, die Glühbirnenproduktion wieder in Gang zu setzen. Daraus entstand schließlich der größte volkseigene Betrieb Berlins mit 5.000 Mitarbeitern: Narva. Nach der Wende wurde das Werk an der Warschauer Brücke trotz Widerstand der Belegschaft abgewickelt und etliches abgerissen. In den durch Umbau verhässlichten Lichtturm zog die hippe Firma Pixelpark. Als sie pleiteging, übernahm der BASF-Konzern den Turm.
Derweil hatte sich im modernisierten Narva-Fabrikkomplex eine kleine „Modeszene“ angesiedelt. Aber auch sie verschwand, als der Fachbereich Modedesign der Hochschule für Technik und Wirtschaft von dort wegzog, weil man damit anderswo, in Oberschöneweide, die Gebäude des Kabelwerks Oberspree (das seine englischen Privatisierer abgewickelt hatten) „wiederbeleben“ wollte.
Die zu Stralau gehörende Gegend heißt heute „Oberbaum City“. „East Side“ nennt sie der Medienprofessor Martin Wiebel in seiner Stadtteil-„Story“. Er hat dort ein Haus restituiert. Sein Urgroßvater war ein Ziegelsteinhändler auf der gegenüberliegenden Spreeseite – wo heute der US-Konzern Universal in einem umgebauten Kühlhaus residiert. Der Urgroßvater errichtete um 1900 72 Mietshäuser am Rudolfplatz, in die dann immer mehr Osram/Narva-Mitarbeiter einzogen. 1906 baute man am Platz die Zwinglikirche – im neugotischen Jugendstilmix.
Auch sie wurde nach der Wende geschlossen, die Gemeinde traf sich fortan in einer kleineren Kirche. 2009 übernahm Martin Wiebel das Gebäude mit seinem Kulturverein. Der Verein „bespielte“ die feuchtkalte Halle mit Ausstellungen und Filmen über das Viertel und das Glühlampenwerk. Dann gelang es, bei der Lotto-Stiftung 500.000 Euro loszueisen und damit die Kirche zu renovieren. Zunächst galt es, fünf Tonnen Taubenmist daraus zu entfernen.
Die Zwinglikirche war die erste in Berlin gewesen, die Osram mit Glühbirnen illuminiert hatte, auch diese Anlage wurde wieder instand gesetzt. Der Kirchenraum ist zudem nun beheizbar und penibelst restauriert – kostenlos: von Studenten des Bereichs Restaurierung der Potsdamer Fachhochschule. Einer stellt zum Beispiel als seine Magisterarbeit die Liste der im Ersten Weltkrieg gefallenen Gemeindemitglieder an einer Wand des Kirchenvorraums wieder her.
Auch einige Zwingli-Sprüche an den Außenwänden sind wieder gut lesbar – etwa der: Jetzt brauchen wir keine Gesetzeswerke mehr, wir organisieren die Gesellschaft über unseren Glauben. Diese Idee war es übrigens, die 1978 so viele evangelische Linke, aber auch den Katholiken Michel Foucault für Chomeini und seine Islamische Revolution einnahm.
Der Zwingli-Kunst- und Kulturverein ist atheistisch, er muss jedoch gelegentlich seinem Vermieter, der eigentlich ausgezogenen Zwingli-Gemeinde, den Platz räumen: Dann wird das Vereinstransparent unter dem Abendmahlsgemälde abgehängt, und es kommt dort wieder der Altar hin. Außerdem gibt es da noch die Firma „Besondere Orte“, die ihre Präsentationstexte auf Recyclingpapier druckt und eine „klimafreundliche Unternehmensverwaltung“ hat. Sie betreibt bereits zwei große „Eventlocations“: die Friedrichshainer Auferstehungskirche mit ihrem „Umweltforum“ und die „Neue Mälzerei“ nahe dem Alexanderplatz. Nun also auch noch die Zwinglikirche.
Selbst wenn das Zusammenspiel der drei Nutzergruppen nicht reibungslos verlaufen wird (dafür spricht schon ihr komplizierter Vertrag!), hat es den Vorteil, dass sie sich die neuerdings nicht unerheblichen Betriebskosten teilen. Der Kulturverein muss dieserhalb ebenfalls einen „Showroom“ aus „seinem“ Sakralbau machen. Derzeit baut die AccoNarva GmbH auf einem beräumten Narva-Gelände einen riesigen Block mit 240 Eigentumswohnungen – „Lautizia“ genannt. Der Verein hofft, dass Bauherr Gregor Gleichfeld die erste Versammlung seiner Wohnungskäufer in der Zwinglikirche abhält. Daneben sind Trompetenkonzerte und Buchvorstellungen geplant. Zu hoffen wäre, dass auch eine Recherchegruppe dort ihre Ergebnisse vorstellt, die das einzige noch unbebaute Stück Osram/Narva-Gelände betreffen: Dort, zu Füßen des Lichtturms, wo jetzt der Raucherpark für BASF-Mitarbeiter ist, befand sich ein Zwangsarbeitslager. Dies war der Grund, warum die sowjetische Militärverwaltung 1946 Osram enteignete.
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