: Weichende Dörfer
Wer in München zum Stadion fährt, kommt zweimal an der gleichen Kirche vorbei: Der Künstler Timm Ulrichs hatte hier mal wieder eine gute Idee
VON MATTHIAS REICHELT
Eine alte Redewendung gegen Übertreibungen lautet, man solle die Kirche im Dorf lassen. Genau das hat die Stadt München im Falle der Gemeinde Fröttmaning nicht getan. Der Kirche wurde nämlich das dazugehörige Dorf geraubt. Mit dem Bau der Reichsautobahn in den 30er-Jahren hatte seine Bedrängung begonnen, hinzu kam eine Kläranlage. Als dann in den 50er-Jahren die Mülldeponie beschlossen wurde, war das endgültige Urteil über Fröttmaning gefällt: Das Dorf hatte zu weichen. Die Stadt erwarb alle Höfe und begrub schließlich das entvölkerte Dorf unter dem Abfall der Münchener Zivilisation. Einzig die Heilig-Kreuz-Kirche, ein romanischer Bau aus dem 12. Jahrhundert, wurde durch das Engagement von Bürgern von dem Schicksal der Höfe verschont.
Im Rahmen seines einzigartigen Kunst-am-Bau-Programms Quivid – der Begriff stammt aus der Wordcompany Adib Frickes – hatte das Baureferat München begleitend zur Anbindung des neuen Fußballstadions in München-Fröttmaning einen geladenen Künstlerwettbewerb organisiert. Der prämierte Entwurf des Konzeptkünstlers Timm Ulrichs wurde vis-à-vis von Autobahn und Stadion realisiert und kürzlich eingeweiht. Ulrichs hatte die Heilig-Kreuz-Kirche als Symbol für das verschüttete Dorf in den Mittelpunkt seines Entwurfs gestellt.
Eine in den Ausmaßen und in der Form identische Replik der Originalkirche wurde so weit im begrünten Müllberg versenkt, dass nur ein Teil des 18,40 Meter hohen Kirchturms sowie des 16,86 Meter langen und 9,62 Meter breiten Kirchenschiffs sichtbar ist. Das moderne Duplikat aus Betonteilen steht parallel verschoben in einer Entfernung von 150 Metern vom Original und ist von Autobahn und Herzog/de Meurons Arena aus gut zu sehen.
Den Titel „Versunkenes Dorf“ entlehnte Ulrichs dem gleichnamigen Gedicht Friedrich Rückerts aus dem Jahr 1813, dem die folgenden Zeilen entstammen: „Kein Malzeichen ist blieben/Kein Trumm und keine Spur/Von den Häusern kein Gebälke/Von den Mauern kein Gekälke.“ Eine andere Redewendung, die in einer Mediengesellschaft kaum aktueller sein könnte – denn erinnert wird nur, wovon wir uns ein Bild machen konnten –, lautet bekanntlich, „aus den Augen, aus dem Sinn“. An vielen Orten auf der Welt mussten Dörfer, ja ganze Siedlungsräume dem Fortschritt weichen.
Die Fahrer auf der Autobahn oder die Besucher auf dem Weg ins Stadion könnten die Erscheinung der zwei Kirchen in Fröttmaning leicht für eine Fata Morgana halten. Ulrichs hat eben nicht das Verschüttete in einem kitschigen Historismus wieder entstehen lassen, sondern das einzig gerettete Gebäude dupliziert. Mit der Replik setzt der Künstler dem standhaft gebliebenen Bauwerk ein Denkmal und schafft gleichzeitig ein Mahnmal für die kulturellen Opfer einer zerstörerischen Zivilisation. Denn der Irrsinn ist dort zu Hause, wo mit dem Abfall einer Gesellschaft eine fast tausendjährige Geschichte zerstört wird. Keineswegs geht es Timm Ulrichs, einem erklärten Atheisten, um eine Verbeugung vor der Institution Kirche. Früher einmal bot er seinen Studenten in der Kunstakademie Münster den doppelten Judaslohn (sechzig Silberlinge gleich 60 Mark) für einen Kirchenaustritt an.
Original und Fälschung, Bild und Abbild ist ein großes Thema in der Kunstgeschichte und im Werk von Timm Ulrichs immer wieder präsent. Die Doppelung der Realität besitzt neben einer philosophischen Bedeutung auch eine ironische und humoristische Note, die manchem Bürger verborgen bleiben wird. Denn in Zeiten der leeren Kassen hat die Kunst meistens das Nachsehen und ruft den Populismus auf den Plan. Der dürfte aller Erfahrungen nach nicht weit sein, wenn 250.000 Euro für eine scheinbar redundante doppelte Heilig-Kreuz-Kirche ausgegeben wurden, nur um sie zu zwei Dritteln im Müllberg verschwinden zu lassen. Ulrichs, der seit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn Kunst und Leben in Einklang zu bringen versucht, erhält unfreiwilligerweise wieder einmal den schlagenden Beweis für die Nähe beider Bereiche.
Vom Plagiieren seiner Ideen durch andere Künstlerinnen und Künstlern kann er bereits ein Lied singen. Nun hat sich Guillaume Bijl bereits zum zweiten Mal Ulrichs Vorwurf eingehandelt, sich seiner Ideen bedient zu haben. Hatte Bijl von Ulrichs 1998 im Münsterland realisierte Reitparcours später in Dronten, Holland imitiert, so will er nun für das Skulpturenprojekt Münster 2007 eine Kirche vergraben, um sie als archäologischen Fund teilweise wieder ausgraben zu lassen. Pikant angesichts der Lehrtätigkeit beider Künstler an derselben Kunstakademie. Ulrichs hat sich darüber in einem offenen Brief beschwert und den Künstler aufgefordert, seine Arbeit zurückzuziehen. Erst kürzlich mahnte der Schriftsteller Thomas Kapielski in Bezug auf Ulrichs’ Produktivität: „Wenn man meint, eine gute Idee zu haben, ist es ratsam, vorher auszukundschaften, ob es nicht längst schon seine war.“
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