IN MITTE (2): Montmartre Mauer
Die Mauer kann wieder hochgezogen werden, den Osten der Stadt können wir vergessen. Mitte ist Montmartre, hat Flair, hat Geschichte, ist aber nur noch ein herausgeputztes Ausgehviertel für Leute mit Geld. Nigelnagelneue Hotels, rammelvolle Sushibars, junge Schickeria. Wir, die ewige, zurückbleibende Boheme, die sich inzwischen in Kreuzberg und Neukölln sammelt, wir werden nie wieder reich und jung sein.
Diese Gedanken stellten sich ein, als ich abends vom Hackeschen Markt kommend in Richtung Weinbergspark ging. Es gibt noch Restposten der abbruchreifen autonomen Hausbewohnergemeinschaft, in der Linienstraße, aber schön sahen diese Bastionen des Verfalls ja noch nie aus. In der Brunnenstraße 183 ist das Erdgeschoss verriegelt, und oben sehen die leeren Fenster wie Augenhöhlen in einem Schädel aus. Das Haus wirkt wie ausgebombt.
Es ist das Mirakel von Mitte, die gespenstische Seite der Verschönerung. Klar sieht alles besser aus als früher. Ich mag ja auch Baulückenschließungen und Neubauten, die mit glänzenden Fassaden strahlen. Aber musste sich Mitte wirklich in ein Klein München verwandeln?
In Richtung Zionskirchplatz, wo der Milchkaffee (ja, ja) inzwischen drei Euro kostet, kam mir eine Frau mit einer roten Handtasche entgegen. KEEP CALM AND CARRY ON stand darauf zu lesen. Es scheint, als lebten wir in einem permanenten Kriegszustand. Und die Devise lautet: Ruhig bleiben, auch wenn die Sturzkampfbomber kommen.
Am Zionskirchplatz gab es allerdings Freibier, die Bar feierte Geburtstag. Wäre diese Bar nicht, überlegte ich neben den Freunden am Tisch, müsste man die gefühlte Mauer womöglich wirklich wahr machen. Vielleicht aber gleicht sich irgendwann wieder alles aus, dachte ich dann weiter. Dann nämlich, wenn die ganze Stadt gentrifiziert ist. Nur wohnen wir dann vielleicht nicht mehr hier. RENÉ HAMANN
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