: Stadt, Land, Suff
Nebenstelle (8): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Claudia Koppert zog nicht zum Schreiben hierher. Aber dann begann sie die stillen Füchse und Käfer zu lieben. Das Dorf braucht ihren Blick, findet sie. Auch wenn ihre Themen nicht ländlich sind
Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.
Samstagabend in die Direktübertragung eines Gesprächs mit Franz Xaver Kroetz geraten, Ort des Gesprächs zum Anlass seines 60. Geburtstags: das illustre Literarische Colloquium Berlin. Als erstes: sein Verhältnis zu dieser Stadt? Kroetz weiß offenbar, worauf sein Gesprächspartner hinaus will: Ja, bei seinem letzten Berlin-Aufenthalt, da er den Rest einer Nacht in polizeilicher Ausnüchterung verbrachte, waren die diensthabenden Beamten richtiggehend erfreut, endlich mal wieder einen Dichter auf der Wache zu beherbergen.
Suff, traditionell eine Form der Überschreitung ordentlichen Lebens, des Über-die-Stränge-Schlagens, Unbotmäßigen. Mich beschleicht eine Art geistiger Übelkeit. Großartig, noch in der Kotze schwimmend, als Dichter Ehrerbietung erfahren, das geht vermutlich nur in einer Stadt wie Berlin.
Auf dem Land wird bekanntlich auch gesoffen, aber dem Dichter würde auf der uns nächstliegenden Wache, in Sottrum, vom Diensthabenden höchstens ein gemurmeltes: „Macht nichts, gestern hat einer geglaubt, er wäre der Werder-Trainer, geht alles vorbei“ in die Ausnüchterungszelle mitgegeben. Ausnüchterungszellen und Dichter, Dichterhelden in Ausnüchterungszellen, ich schalte das Radio aus. – Sven Regeners „Herr Lehmann“, Andreas Maiers Kirillow-Helden Frank Kober und Julian Nagel, welcher Geist? Welche Entgrenzung? Überschreitung wohin?, frage ich mich als eine, die ihr Heil schon immer in der Nüchternheit gesucht hat.
Im Grunde ist literarisches Schreiben eine elaborierte, mehr oder weniger indirekte Ausgestaltung und Formgebung von Unzufriedenheit mit dem Vorgefundenen. Deshalb handelt es vom Trügerischen des Guten, gut Gemeinten, von unglücklicher Sattheit, Kaputtheit und Gewalt im Normalen, abseitigem Glück, von Vergänglichkeit, Vergangenheit, Handlungsfähigkeit in aussichtslos scheinender Lage, Lebendigkeit im Mangel ... Ist somit eine Erweiterung, Intensivierung der Resonanz auf das Vorgefundene, das, was manchen widerfahren ist – befremdender, vertrauter, erhellender, witziger, versöhnlicher, erschütternder als das im Alltagseinerlei daherkommende Original.
Das ist überall so, egal, worüber oder wo jemand schreibt. Vorbei die Zeiten, da in die Stadt gehen musste, wer den festgezurrten Lebensverhältnissen auf dem Land entfliehen wollte. Warum also immer noch und wieder die Vorstellung, in der Metropole finde sich, was Schriftsteller brauchen? Während man auf dem Land nur archaische Rohheit, provinziellen Kleingeist am Werk sehen und denunzieren kann? Als ob das große Leckt-mich-am-Arsch, Voraussetzung allen eigenständigen Schaffens, auf dem Land unvermeidlich erstickt werde.
Kann ich nicht bestätigen. Heute kann auch Landluft frei machen. Und: In der Stadt würde ich nicht schreiben, dort fehlte das Zutrauen, dort braucht niemand meinen Blick, ich käme gar nicht auf die Idee zu dieser Arbeit mit mir. Hier im Dorf braucht das zwar auch niemand – wie sollten die Leute etwas brauchen, das sie sich nicht vorstellen können? Meine Themen sind weder unbedingt ländlich, noch richte ich mich an ein ländliches Publikum, und literarisch Versierte gibt es hier nur im Promillebereich.
Aber manchmal wundere ich mich. Sprach mich auf der letzten Beerdigung ein Landwirt an: „Jouh“, sagte er, er habe etwas von mir zu Weihnachten geschenkt bekommen. Und gelesen. Ob ich wisse, wo er lese? – Halb gespannt, halb schelmisch. – Nee, konnte ich mir nicht vorstellen, wusste überhaupt nicht, dass er mehr liest als die Zeitung. „Jouh“, sagte er, „am liebsten auf dem Hochsitz; kann man prima lesen, passiert die meiste Zeit doch nichts.“ Vorm Hochsitz vielleicht nicht, aber jüngst hat sich einer an einem der Hochsitze aufgehängt. Steht seither ein Auto undefiniert im Wald herum wie am Sonntagmorgen ein Coupé, das mir auffiel, heißt es gleich: „Hoffentlich hängt nicht wieder einer am Hochsitz.“ Das kann zwanzig Jahre so gehen, ist einmal etwas passiert, hält es sich im Bewusstsein.
In dieser Umgebung finde ich, mein Blick gehört auch dazu, so, wie die Welt ist, hat er seine Berechtigung, auch ohne Affinität zu einer Szene. Ich bin aus Berlin kommend, 1988, genau gesagt Westberlin, nicht zum Schreiben in die Gegend gezogen. 35 km bis Bremen, das heißt, Bibliotheken, Theater, Uni, Kinos, 80 bis Hamburg, 70 bis Hannover, Bahnanschlüsse, Autobahn in erreichbarer Entfernung, lauteten die ausschlaggebenden Koordinaten. Aber dann hat mich der Ort zum Schreiben gebracht; es müsste nicht der sein, aber einer, wo meine Nüchternheit mir zu innerem Reichtum wird, während ich tagaus, tagein morgens die immergleichen Feldwege entlang stolpere, unter tief hängenden Wolken, zwischen abgeernteten winterlichen Äckern oder durch den Frühlingsrausch jetzt, wo ausschlägt und sich begrünt, was dazu in der Lage ist.
Am vorigen Mittwoch entdeckte ich einen toten Fuchswelpen, vielmehr, der Hund hat ihn entdeckt, der Pelz flaumig, die weißen Zähnchenreihen im offenen Maul – erstarrtes Fuchstodgrinsen, einen Augenblick am Fuchstod teilnehmen; oder am Fuchsleben, bei Schnee sieht man ihre Fährte ins Dorf oder erhascht den Blick auf einen flüchtenden Fuchs in der Pampa. Teilnehmen an den rasenden Abläufen, dem schnellen Umsatz, der das Leben ist, ich brauche mich nur bücken: ein angebissener Käferleib, abgerissener Deckflügel, Reste des nächtlichen, kreisenden Mahls der Fledermäuse, auf Schritt und Tritt Beweise für die völlige Ungleichzeitigkeit aller Existenz, die Abhängigkeit des Wachsens, Gedeihens der einen vom unvermittelten Krepieren der anderen. Wo es auf mich, die Menschen nicht so ankommt.
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