: Ein allzu fragiles Juwel im Freudentaumel
Australien hofft beim heutigen Achtelfinale gegen Italien auf eine erneute Wiederauferstehung des dauerversehrten Harry Kewell
Den kleinen Scherz bei der Mikrofonübergabe ließ sich Guus Hiddink nicht nehmen. Das Späßchen über seine aufgeregte Mama, die eine halbe Stunde nach dem Sprung der Australier ins WM-Achtelfinale zweimal kurz hintereinander auf seinem Handy anrief, hatte der 59-Jährige („Sie war schon immer so hartnäckig“) bereits hinter sich, jetzt war Harry Kewell an der Reihe. Das schmale Bürschchen mit dem großen Tattoo auf dem rechten Unterarm war gekommen, um sich als Schütze des entscheidenden Tors gegen Kroatien zum „Player of the match“ küren zu lassen. Doch vorher murmelte ihm sein launiger Trainer noch betont deutlich zu: „Ich habe den Leuten hier gerade gesagt, dass du lausig gespielt hast.“
Hiddink grinste, Kewell grinste. Und dann erzählte der Mann vom FC Liverpool, was im Stuttgarter WM-Stadion wirklich passiert war. „Ich habe das wichtigste Tor in meiner Karriere geschossen“, interpretierte der Angreifer sein Ausgleichstor zum 2:2 elf Minuten vor Schluss, das die Außenseiter vom anderen Ende der Welt in die Runde der 16 besten Teams bugsiert hatte. Dass er ganz Australien dabei mit einem Abseitstor in einen Freudentaumel geschossen hatte, war Kewell in dem Moment herzlich egal. „Manchmal entscheidet der Schiedsrichter für dich, manchmal gegen dich“, kommentierte er die Leistung des überforderten Briten Graham Poll lapidar und betonte nach elf Jahren Fußballerleben in England in noch immer breitestem Kaugummi-Australisch: „The goal stands.“
Sein Treffer zählt also, deshalb darf die Hiddink-Elf heute Nachmittag zu Teil vier ihres Deutschlandabenteuers schreiten – gegen Italien.
Man sollte meinen, damit hat es sich für die Australier ausgeabenteuert. Doch einem Team mit der Willenskraft und der Wucht gedopter Kängurus, das dreimal einen Rückstand wettgemacht hat, ist auch vor der italienischen Abwehrwand nicht bange. „Wir wollen“, lautet Kewells Losung für Kaiserslautern, „Spaß haben – und gewinnen.“
Sein folgenreiches Tor gegen die Kroaten hat er dem französischen Stürmerkollegen Djibril Cissé gewidmet, der sich beim letzten WM-Test einen Schien- und Wadenbeinbruch zuzog und zu Hause bleiben musste. „Er ist einer meiner besten Freunde, sein Ausfall hat mir richtige Herzschmerzen bereitet“, erzählt der smarte Australier über seinen unglücklichen Kumpel, mit dem er gemeinsam für Liverpool stürmt.
Gute Freunde kann Kewell an der Anfield Road wahrlich gebrauchen. Denn der 27-Jährige, im Juli 2003 für sieben Millionen Pfund von Leeds United nach Liverpool gewechselt, ist für seine zahllosen Verletzungen inzwischen genauso berühmt wie für sein außerordentliches Talent und seine grenzenlose Einsatzbereitschaft. Ein Ruf, der nicht zuletzt darin begründet liegt, dass ein versehrter Kewell offensichtlich ein ausgesprochener Widerling ist. „Ich bin keine sehr nette Person, wenn ich verletzt bin. Keiner weiß das besser als ich“, sagt Kewell über sich selbst.
Auch sein Einsatz heute gegen Italien ist noch nicht sicher. Das gestrige Abschlusstraining musste er wegen Leistenproblemen ausfallen lassen. Schon im Vorfeld der WM hatte er verletzt die wichtigste Vorbereitungsphase der australischen Mannschaft verpasst. Ob er schon im ersten Gruppenspiel gegen Japan eingesetzt werden sollte, war das meist diskutierte Thema im Land.
Trainer Hiddink ließ Kewell schließlich von der ersten bis zur allerletzten Minute auf dem Feld, ebenso wie – nach einem 35-minütigen Teileinsatz gegen Brasilien – in der entscheidenden Partie gegen Kroatien. Da stattete der Niederländer Kewell, der sich als hängende Spitze auf der linken Seite am wohlsten fühlt, als zweiten Stürmer neben Mark Viduka wie gewohnt mit großen Freiheiten aus – und dachte „keine Sekunde“ daran, sein fragiles Juwel auszuwechseln. „Solche Spiele sind ganz spezielle Spiele, dafür brauchst du spezielle Spieler“, erklärte Hiddink, „dieser Typ Spieler kann den Unterschied ausmachen.“
Der Typ Fußballer, der wie Kewell über Technik, Torriecher und dazu ein großes Kämpferherz verfügt. Sein erster Trainer Stephen Hinton musste den vierjährigen Harry bei den Smithfield Hotspurs in Sydney einst selbst vom Platz tragen, weil der Knirps, obwohl krank und von Krämpfen geplagt, das Spielfeld partout nicht verlassen wollte.
Den Knirps Harry von früher hat Australiens Premier John Howard nach seinem Tor gegen Kroatien in der Heimat nun zum „König Harry“ gekürt. Liverpools dramatischen Champions-League-Sieg 2005 gegen den AC Mailand hatte der wieder einmal verletzte und in Minute 23 ausgewechselte Kewell fast komplett von der Ersatzbank aus erlebt. „Es war eine der größten Wiederauferstehungen in der Geschichte des Fußball, und ich war kein Teil davon“, sagte er nach dem 2:2 gegen Kroatien, ehe er seine Fußballerseele in Stuttgart für geheilt erklärte: „Heute Nacht haben sich alle früheren Entbehrungen endlich ausgezahlt.“ ANDREAS MORBACH
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