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„Mach sofort das Viech weg!“

Nervöse Menschen, besonders weiblichen Geschlechts, fürchten Gäste in der Sommernacht

Neben der Rhododendronblüte und dem Heuschnupfen ist er einer der verlässlichsten Sendboten des Sommers: der Schuster oder Schneider, auch Stelzmücke, Meister Langbein oder schlicht Schnake genannt. Der Schuster, ein Insekt aus der Ordnung der Zweiflügler, misst etwa 26 Millimeter; im Übrigen ist seine Erscheinung durch einen lang gestreckten, meist grauen, mitunter auch rötlichen oder ockergelben Körper sowie sechs fadendünne, übermäßig lange Beine gekennzeichnet. Unkundige verwechseln den Schuster gern mit dem Weberknecht; der hat aber mindestens acht Beine, einen winzigen runden Leib und kann nicht fliegen. Schön im landläufigen Sinne sind sie beide nicht.

Wo der Schuster den Winter verbringt, im fernen Süden oder im Keller, ist nicht ersichtlich. Im Mai ist er einfach wieder da. Wir finden ihn dann an Wald- und Wiesenrändern, meist aber in der Wohnzimmerecke oder hinterm Sofa. Wer den harmlosen Gesellen als unerwünschten Eindringling betrachtet und ihn zu fangen beabsichtigt, gehe behutsam zu Werke; bei allzu beherztem Zugriff fallen ihm leicht etwelche seiner zartgliedrigen Beine aus; sie liegen dann noch stundenlang zuckend auf dem Teppich herum.

Die Ernährungsgewohnheiten des Schusters stellen den Forscher vor erhebliche Probleme. Stechmücken saugen Blut, Wespen fressen Erdbeermarmelade – aber der Schuster? Man hat ihn schlicht noch nie bei einer Mahlzeit angetroffen; entweder taumelt er scheinbar ziellos durch die Luft, oder er sitzt stundenlang unbewegt auf der Raufasertapete. Manche nervösen Menschen vornehmlich weiblichen Geschlechts fürchten, der Schuster könne nachts, wenn sie in tiefem Schlummer lägen, auf ihrem Gesicht landen und mit seinen dünnen, langen Fühlern in Mundwinkeln oder Nasenlöchern nach Essbarem tasten. Wenn er fündig geworden sei, fahre er einen bräunlichen haarigen Insektenrüssel aus. Dergleichen gehört ins Reich der Fabel; der Inhalt von Mündern und Nasen interessiert den Schuster nicht die Bohne. Dennoch kann man manche Damen in lauen Sommernächten durchdringend rufen hören: „Hans-Rüdiger, du entfernst sofort dieses Viech aus meinem Schlafgemach, sonst krieg ich kein Auge zu!“

Wie schon angedeutet, ist der Flugstil des Schusters – man denke vergleichsweise etwa an die wendige, pfeilschnelle Libelle – wenig elegant, ja von nachgerade provokanter Amateurhaftigkeit. Mit leisem Schnarren gondelt Meister Langbein in unbeholfenem Tief-, wenn nicht Blindflug über Gräsern und Büschen dahin; versperren ihm Glasscheiben, Hauswände oder menschliche Gesichter den Weg, semmelt er regelmäßig dagegen und wiederholt solche Karambolagen auch noch etliche Male, bis er sich endlich entschließt, die Richtung zu wechseln – ein Bruchpilot im Insektenreich. Gern sucht der Schneider abends die Nähe erleuchteter Lampen oder Neonröhren, weiß dann aber wenig mit ihnen anzufangen und schnarrt permanent an ihnen entlang, möglicherweise in der Absicht, durch das harte Glas zu dringen – angesichts seiner schwachen Kräfte natürlich ein hochgradig aussichtsloses, ja kreuzdämliches Unterfangen.

Der Schuster ist also nicht eben der Hellste; mitunter ist man versucht, seine Existenz als weitgehend zweckfrei, ja völlig überflüssig zu betrachten. Oder verfügt Meister Langbein vielleicht über eine noch unerwähnte Fähigkeit, ein besonderes Talent, das ihn unter anderen Bewohnern dieses Planeten auszeichnet, das staunen macht und alle Kritik verstummen lässt? Ja, in der Tat, der Schuster besitzt eine solche ans Wunderbare grenzende Gabe: Er ist in der Lage, sich an einem einzigen seiner dünnen Fadenbeinchen kopfüber von der Zimmerdecke herabhängen zu lassen – und das über Stunden und ohne sichtliche Anstrengung. Auch du, geneigter Leser, und ich brächten das nicht fertig, Free Climbing hin, Zen-Meditation her. So lass uns denn beiseite treten und ehrfurchtsvoll schweigen.CHRISTIAN MAINTZ

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