: Was bleibt Gelsenkirchen schon übrig?
Heute um 17 Uhr spielt Portugal gegen England – in Gelsenkirchen. Es ist die letzte Gelegenheit, sich der Weltöffentlichkeit als WM-Stadt zu präsentieren. Ab morgen herrscht wieder der Alltag in Gelsenkirchen, und Alltag bedeutet hier im Revier: Leerstand, Arbeitslosigkeit – und Fußball auf Schalke
aus GELSENKIRCHENCHRISTOPH SCHURIAN
Carmen Fuchs betreibt eine Fabrik in Gelsenkirchen. Die Rio Ballfabrik stellt Plastikbälle her, bunt bedruckte und mit Luft gefüllte Werbegeschenke. Am Telefon erinnert sie sich gut an die Journalistenreisegruppe, die vor einem halben Jahr das Unternehmen besuchte. „Ach, herrjeh“, seither sei so viel geschehen, stöhnt sie. Gelsenkirchen wurde Fifa-WM-Stadt, hier spielt heute England gegen Portugal – es ist die letzte WM-Begegnung in der Schalke-Arena von Gelsenkirchen.
Mit ihrer rauchigen Stimme erzählt Frau Fuchs von der Urlaubssperre in der kleinen Firma, von den Doppelschichten, die sie fahren ließ, bis am 9. Juni zum Start des großen Fußballturniers in ihrer Stadt alles vorbei war. „Wir hatten viel zu tun“ – brummt sie, aber jetzt muss es wieder weitergehen. Die WM sei kein „positiver Stress“ gewesen. Eine Druckmaschine ging ihr kaputt, sie musste Ersatz besorgen in der Schweiz. Vom Turnier habe sie kaum etwas mitbekommen – „außer am Fernsehen“.
In der Fabrikhalle arbeiten ein paar Männer an Arbeitsplätzen, die es so ähnlich schon vor fünfzig Jahren gab. Schweigend legen sie Kunststoff in Gießmulden, befüllen Rohlinge mit Luft, legen die Werbeträger zum Bedrucken auf Rollbahnen. Die Männer schwitzen leicht bei ihrer monotonen Arbeit. In Gelsenkirchen gab es früher viele solche Jobs.
„Ich tue mich schwer damit, denen zu sagen: Für euch haben wir nichts, kriegen wir nichts“, sagt der Oberbürgermeister der Arbeitslosenhochburg in Westdeutschland – für Juni hat die Arbeitsagentur eine Erwerbslosenquote von 20,2 Prozent ermittelt. Fast alle Betroffenen sind seit Jahren ohne Anstellung. Frank Baranowski ist seit 28 Jahren in der SPD, er war Lehrer, seit elf Jahren ist er Politiker, seit zwei Jahren Oberbürgermeister. Woher die Jobs kommen sollen? Die wirtschaftliche Entwicklung brauche Zeit, glaubt Baranowski. Und: Die Stadt leide unter ihrem Image.
Sein Amtsvorgänger – heute Bauminister der schwarz-gelben Landesregierung in Düsseldorf – ist nicht unschuldig am Bild vom Armenhaus des Reviers. Gelsenkirchen gehe es schlechter als vielen Städten im Osten, klagte der CDU-Mann Oliver Wittke immer wieder. Er gab dramatische Zeitungsinterviews, veranstaltete Krisenkonferenzen und zeigte sogar dem Bundesbauminister die miesesten Ecken der Stadt.
Baranowski versucht sich am Gegenteil. Im Herbst lud er Journalisten ein, um ihnen den neuen Gelsenkirchener Zoo namens „Zoom Erlebniswelt“ vorzuzeigen, die Baustelle eines Vier-Sterne-Hotels am Rande des alten Parkstadions, eine expandierende Papierfabrik. Mit ortsansässigen Unternehmern gründete er eine Interessengemeinschaft, um die Stärken der Stadt – etwa ihre verkehrsgünstige Lage – zu unterstreichen. Doch der triste Ruf hält sich hartnäckig: Bei der Pressereise fehlte etwa das Fernsehen und die überregionale Presse aus Hamburg oder Berlin.
Dass bei der Weltmeisterschaft nun der Stadtname zwischen den Fifa-Hauptsponsoren steht und um die Welt geht, macht den OB stolz. „Das können Sie mit Geld nicht bezahlen“, freut sich Baranowski. Sogar CNN habe einen Beitrag gemacht. Die Stadt könnte zu den Spielen Investoren einladen, zum Viertelfinale erwarte man noch einmal zwei Unternehmer aus Holland. Ob sie wiederkommen, ob sie Geld mitbringen, weiß Baranowski nicht: „Es wird sich mittelfristig auswirken“, glaubt er.
Baranowski ist ein schlaksiger, adrett gekleideter Mann, mit straffer Gesichtshaut – ein bisschen wie Klinsmann. Und wie der Bundestrainer zwingt er sich, die Dinge positiv zu sehen, ohne Angst. „Bei der Konjunktur hinken wir zwar hinterher“, sagt Baranowski später auf einem Boot, das sich Ideenschiff nennt und im Kanalhafen der Stadt festgemacht hat. Aber beim demografischen Wandel sei Gelsenkirchen anderen weit voraus. Die vielen Alten und den hohen Anteil von Migranten möchte Baranowski gerne als Chance sehen. Gerade entstehe ein Stadtviertel für gemeinschaftliches Wohnen von jung und alt. Hochhaussiedlungen will er zurückbauen, weil den Trabantenstädten bald die Mieter ausgehen werden.
Vom echten Klinsmann schwärmt dann der WM-Botschafter der Stadt. Olaf Thon, Schalke-Aufsichtsrat, Nationalspieler, Weltmeister, sagt, Jürgen Klinsmann habe die Leute aus der „Lethargie“ gerissen. Die WM habe Arbeitsplätze gebracht, gerade erst sei die Quote in der Stadt um zwei Prozent gefallen. In einer Studie der Universität Leipzig sei Gelsenkirchen als gastfreundlichste WM-Stadt ausgezeichnet worden, mit Spitzenwerten in der Gastronomie.
„Das war ein Lacher“, sagt Susanne Franke und freut sich, dass in ihrer Geburtstadt mit viel Pommeskultur die Selbstironie angekommen ist. Die Vorsitzende der Schalker Faninitiative gegen Rassismus lebt und arbeitet in Köln als promovierte Anglistin. Die WM habe einige Bilder umgeworfen, sagt sie. Es habe eine große Gegendemo gegen einen Aufmarsch von NPD-Anhängern gegeben und es habe sich gezeigt, dass Fußballfans nicht notwendigerweise „illiterat“ sind, meint Frau Franke. Ob es der Stadt langfristig was gebracht habe? „Das beschränkt sich auf weiche Faktoren“, sagt Franke. Nach der WM werde sich das Interesse sowieso wieder auf den Großklub Schalke richten. Auch Olaf Thon hat das zuvor gesagt: nach der WM werde der Name Gelsenkirchen wieder in den Hintergrund treten und Schalke Platz machen.
Es geht sogar noch ein bisschen schneller: Noch bevor das letzte WM-Spiel angepfiffen wird, steht der Verein wieder im Mittelpunkt. Am Donnerstag lud Schalke in die vereinseigene Arena zur Jahreshauptversammlung. Und hier ist die WM nicht zu Gast in Gelsenkirchen, sondern ein Mieter des Multifunktionsstadions, für das der Traditionsclub 190 Millionen an Verbindlichkeiten aufgenommen hat. In der ganzen Welt, ruft Clemens Tönnies, der Aufsichtsratsvorsitzende, den 2000 Schalke-Mitgliedern zu, sei berichtet worden, die „Veltins-Arena-auf-Schalke“ sei das schönste Stadion der Welt. Dann ehrt er die Jubilare, verabschiedet sich von 121 gestorbenen Vereinsmitgliedern und dankt dem geschassten Manager Rud Assauer.
Was also bleibt einer Fifa-WM-Stadt nach der WM? „Die Infrastruktur“, sagt Frank Baranowski. Die Autobahnanbindung, der modernisierte Hauptbahnhof. „Egal, wie die WM ausgeht“, meint der Oberbürgermeister von Gelsenkirchen, „das kann uns keiner mehr nehmen.“ Doch auch den sanierten Bahnhof muss sich der SPD-Mann Baranowski zurzeit teilen – mit einem Schimpansen. Der klebt zwischen Gleisen und Innenhof alle paar Meter als Plakat auf dem Boden. Der Affe trägt ein Polohemd, darüber steht „Trigema sichert Arbeitsplätze in Deutschland“. Der süddeutsche Bekleidungshersteller hat die „Bahnhofsdominanz in Gelsenkirchen“ über die Deutsche Eisenbahnreklame gebucht. Die Ruhrpottstadt sei viel günstiger gewesen als etwa Stuttgart, weiß die Firmensprecherin. Und zu Gelsenkirchen gebe es ja auch eine besondere Beziehung: Im August 1979 sei die Firma der erste Trikotsponsor von Schalke 04 gewesen.
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