: Als der Zorn noch produktiv war
Und schon wieder frisst der Erfolg seine eigenen Kinder: Das Album „1992–2000“ von Atari Teenage Riot
Es regierte das Ausrufezeichen. Alles war bei Atari Teenage Riot Parole, ohne geballe Faust ging bei dieser Band niemand aus dem Haus. Stücke hatten Titel wie „Destroy 2000 Years Of Culture“, „Revolution Action“ oder „Hetzjagd auf Nazis!“. Die Philosophie der Band wurde im berühmt gewordenen Slogan „Riot Sound Produce Riots“ zusammengefasst.
Das waren die Neunziger. Man ist ein wenig erstaunt, dass die Musik, die auf der eben erschienenen Werkschau von Atari Teenage Riot „1992–2000“ zu hören ist, immer noch ungemein frisch und aggressiv klingt. Das ganze Digital-Hardcore-Ding dagegen, das die Berliner Band begründete, erscheint einem aber dennoch historisch. Niemand macht heute noch Digital Hardcore, diese Mischung aus Gabba-Beats, Sirenengehäul, Metalgitarren und Einpeitschgesang. Digital Hardcore wurde über die Jahre hinweg vom eigenen Erfolg aufgefressen: Er ging auf in dem, was man später Big Beat nannte, wurde zum Massenereignis bei The Prodigy und lebt heute fort im Genre Breakcore. Das verdankt Atari Teenage Riot die Vorstellung, elektronische Musik müsse unbedingt wehtun und brutal klingen.
Die Protagonisten des Digital Hardcore selbst haben sich ebenfalls irgendwann komplett aus der Szene verabschiedet, machen heute Hiphop, arbeiten als Produzenten oder betreiben kleine Labels. Atari Teenage Riot zerbrachen Ende des Millenniums. Die Band war so gut wie am Ende, es gab interne Spannungen und Bandmitglied Carl Crack starb den Drogentod. Zum Schluss wirkte das Auftreten der Band als musikalische RAF nur noch phrasenhaft. Man hatte sich einfach an den digitalen Punk der Band gewöhnt – und ging dazu sogar joggen.
Der Werdegang von Atari Teenage Riot bleibt jedoch atemberaubend, und was dabei an Energie freigesetzt wurde, transportiert die Werkschau eben auch. Als es losging mit der Band, passierte in Berlin gerade Techno und man nutzte die neuen Räume, die die Wiedervereinigung mit sich brachte. Alles war friedlich und man erfand die Loveparade. Als der deutsche Mob in Rostock Asylantenheime abfackelte, tanzte man einfach weiter. Atari Teenage Riot jedoch reagierten mit Wut und Hass. „Der neunte Schuss ging sauber durch die Stirn“ hieß es in „Hetzjagd auf Nazis!“ und „Deutschland Has Got To Die“ erfreute das Herz eines jeden Antifalers.
Bezeichnenderweise kamen die Spielverderber von Atari Teenage Riot in Deutschland weit weniger an als im Ausland. Die Beastie Boys waren erklärte Fans der Band, man tourte mit ihnen erfolgreich durch die USA und bald war davon zu hören, dass Alec Empire, der Kopf der Band, in Japan ungefähr so verehrt wird wie bei uns Franz Beckenbauer.
Aufregende Zeiten müssen das gewesen sein. Auch Alec Empire, der in Japan angeblich immer noch Fanclubs hat, in Berlin jedoch eher als lebende Obskurität angesehen wird, scheint ihnen nachzutrauern. In den Linernotes zur CD schreibt er, wie fad all die Musik um ihn herum geworden sei und dass niemand heute die Intensität seiner verblichenen Band erreichen würde.
Doch es gibt Hoffnung für ihn. Angesichts der Debatte um No-go-Areas könnte „Hetzjagd auf Nazis!“ wieder zum Demohit werden und die alte ATR-Nummer „Speed“ kann man auf dem Soundtrack des demnächst auch bei uns anlaufenden Hollywood-Blockbusters „Fast and furious: Tokyo Drift“ hören.
ANDREAS HARTMANN
Atari Teenage Riot: „1992–2000“, DHR
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