: Rentner – global, hilfreich und gut
VON CHRISTIANE MARTIN
Schnapp, macht die Gartenschere und ein Kiefernzweig fällt zu Boden. Friedrich Müller steht in Jeans und gestreiftem Hemd in seinem Garten in Königswinter bei Bonn und schneidet einen Durchgang zur Straße frei. Nur mal so eben schnell zwischendurch, weil ihn der Ast gerade gestört habe, erklärt der 72-Jährige, und weil er sich halt immer etwas zu tun suche. Müßiggang ist dem pensionierten Polsterer ein Graus. Immer noch beruflich im Einsatz als Ausbilder, politisch engagiert, Hobbymusiker, Laienschauspieler, Heimwerker und Gärtner, Ehemann, Vater und Großvater - als sei das alles noch nicht genug, gehört Friedrich Müller seit drei Jahren auch noch zum Senior Experten Service (SES), einer Bonner Organisation, die Ruheständler weltweit zu ehrenamtlichen Beratungseinsätzen entsendet (siehe Kasten).
Sechs Mal war Müller schon für den SES bei Polstermöbelherstellern in Russland und Bulgarien, hat mit seiner Fachkenntnis und gesundem Menschenverstand Arbeitsabläufe optimiert, Umsätze gesteigert und Produkte verbessert. „Das ist sehr befriedigend. Außerdem sehe ich dabei etwas von der Welt“, erklärt er seine Motivation. Reisefreude und Abenteuerlust haben den gebürtigen Rheinländer, der sich eher bodenständig als extravagant gibt, bis heute nicht verlassen. Seit Jahren schon macht er Urlausbsreisen in aller Herren Länder. „Brasilien, Kanada, USA, Sri Lanka, Philippinen, Südsee, Kenia“, zählt der rüstige Rentner ohne jede Angeberei die bisher bereisten Ziele auf. Russland und Bulgarien kamen ihm da gerade recht. „Da war ich ja noch nie“, sagt er. Und deshalb habe er mit einer Zusage nicht gezögert, als er im Jahr 2003 über seinen Sohn mit dem SES bekannt wurde und hörte, dass die Organisation einen Polsterer für einen Einsatz in der Nähe der russischen Stadt Perm sucht. „Ich sollte da eine Polsterfabrik mit 1300 Mitarbeitern auf Vordermann bringen“, erinnert er sich lachend. „Die hatten festgestellt, dass sie ein Drittel weniger produzieren als ein vergleichbarer deutscher Betrieb und wollten nun besser werden.“ Eigentlich sei dieser Auftrag eine Nummer zu groß für ihn gewesen, gleichzeitig aber auch eine Herausforderung, die ihn reizte.
Also machte der agile Mann sich auf den Weg an den Ural, verpasste als Erstes seinen Anschlussflug in Frankfurt, landete dann ein paar Tage später dennoch sicher in Nowgorod und nahm es auch gelassen, als sich die angekündigte einstündige Autofahrt zum endgültigen Ziel als siebenstündige Zugfahrt herausstellte. „Als wir endlich nachts um drei Uhr da waren, war ich trotzdem erstmal geschockt“, gesteht Friedrich Müller. Mitten in der Nacht habe das Gebäude, in dem er während seines dreiwöchigen Einsatzes wohnen sollte, einen nicht sehr Vertrauen erweckenden Eindruck gemacht. „Außerdem lag überall noch Schnee. Und das im Mai!“, fügt er kopfschüttelnd hinzu. Doch die Gastwohnung stellte sich als äußerst komfortabel heraus und so habe er seinen ersten Tag in Russland doch noch mit einem positiven Gefühl beendet. Am nächsten Tag bei der Besichtigung des Polsterbetriebs verlor er dann allerdings seinen Optimismus noch einmal kurzzeitig. „Ich habe sofort gesehen, dass die Arbeiter handwerklich topfit sind. Auf den ersten Blick konnte ich überhaupt kein Verbesserungspotenzial erkennen“, erinnert er sich.
Aber Friedrich Müller war nicht umsonst jahrelang selbstständiger Unternehmer. Ihm sei dann relativ schnell klar gewesen, dass es an der Arbeitsorganisation liegen müsse. Also filmte er die gesamte Produktion und schaute sich die Aufzeichnungen abends in seiner Herberge an. „Am nächsten Tag schon habe ich denen sagen können, wo der Hase im Pfeffer liegt“, sagt der Senior Experte. Die Sofas seien nach der Polsterung direkt am Arbeitsplatz der gut ausgebildeten Fachkräfte von Hilfsarbeitern zusammengebaut worden. „Die Polsterer standen in der Zeit herum und konnten nicht weitermachen“, erklärt Müller. Es habe noch ein bisschen Überzeugungsarbeit gekostet, aber dann wurde auf sein Anraten hin ein eigener Bereich eingerichtet, in dem die Sofas zusammengebaut und kontrolliert werden konnten – mit sofortiger Wirkung. Die Produktion erhöhte sich schlagartig. “Dass es so einfach gehen würde, hätte ich nicht gedacht“, freut Friedrich Müller sich im Nachhinein über seinen ersten SES-Einsatz.
Danach habe er Lust auf mehr bekommen. Und in Bulgarien bei einem seiner nächsten Expertenprojekte seien dann auch seine Fachkenntnisse als Polsterer gefragt gewesen. „Das war echte Entwicklungshilfe. Denen musste ich so viel beibringen“, erinnert er sich. Aus Dankbarkeit werden heute in der kleinen bulgarischen Polsterei Sofas mit Namen wie „Modell Anette“ - nach Müllers Tochter - oder „Modell Kölner“ als Hommage an die große Stadt in seiner Heimat hergestellt. Ihn selbst amüsiert das eher, als das es ihm schmeichelt. Friedrich Müller strahlt auf angenehme Art Selbstzufriedenheit aus.
„Man muss die Dinge, die man tut, selbst gut finden“, gibt er seine Lebensmaxime zum Besten und lässt seinen Blick gelassen über die Blumenbeete und den kleinen Bach in seinem Garten schweifen. Der nächste SES-Auftrag soll ihn nach Ägypten führen. „Mal schauen“, sagt er und lehnt sich gemütlich zurück.
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