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NATALIE TENBERG über HABSELIGKEITENO Graus: Erst der Schnurrbart, dann das Schulterpolster. Kommt jetzt etwa auch noch das Schlüsselmäppchen zurück?Grüße aus dem Jenseits

Haben Sie diesen Sommer schon von Ihren Nachbarn und Freunden einen Schlüssel bekommen, mit der Bitte, die Pflanzen zu gießen und den Briefkasten zu leeren? Ich habe, obwohl noch relativ früh in der Ferienzeit, schon zwei Briefkästen, drei Tomatensträucher, Salbei, Rosmarin, Lavendel und etwas Efeu in Pflege.

Mach ich gerne, stört mich nicht, ich selbst freue mich ja auch, wenn die paar traurigen Pflanzen auf unserem Balkon in unserer Abwesenheit nicht ganz eingehen. Dann gebe ich gerne den Schlüssel bei der Person unseres Vertrauens ab, und der hängt meistens an einem langen Band. So einem, wie es früher eher Saxofonspielern vorbehalten war, die daran ihr Instrument hängten. Umso erstaunter war ich, als ich nun diesen Sommer zwei ganz ähnliche Schlüssel ausgehändigt bekam: rechteckige, schwarze Kunstledertaschen, in deren Längstkante man den Ring stopft und das Ganze mit einem Reisverschluss zuzieht. Klein, kompakt und zum letzten Mal hatte ich so etwas kurz vor dem Tod meines Opas gesehen, der seinen Autoschlüssel so aufbewahrte.

Meine Nachbarn sind doch Menschen mit Geschmack und großem Willen, sich übers Ästhetische zu definieren! Zeugten davon nicht die Wagenfeld-Leuchte beim einen und das Alessi-Gedöns beim anderen? Gehörte das Kunstlederschlüsselmäppchen nun auch zu den Dingen, die plötzlich wieder auf der Liste der allgemein akzeptierten Gebrauchsgegestände aufgeführt waren? Wenn selbst der Schnurrbart wieder getragen wird und das Schulterpolster – dann hat auch das Schlüsselmäppchen seine Chance verdient.

Wann genau die Menschen darauf gekommen sind, dass es viel praktischer ist, den Haustürschlüssel an ein langes Band zu hängen, weiß ich genau: Ende der Neunziger. Kurz zuvor gab es eine andere das Stadtbild bis heute prägende Revolution. Nein, nicht die Verbreitung von Internet und E-Mail, sondern die Gepäckrevolution, als jemand endlich auf die Idee kam, dem rollenden Koffer mehr Stabilität zu geben, indem er auf die kurze Seite gedreht und gekippt wurde. Die durch die Gepäckvereinfachung mobiler gewordenen Menschen hatten nur ein Problem, sie waren so viel unterwegs, dass sie dauernd ihren Schlüssel verloren oder aber die nun viel häufiger eingestellten Pflanzengießer immer suchten. Mit der Zeit verschwanden die Schlüsselringe mit den in durchsichtigen Kunststoff gestopften Bildern der Kinder, die mit den Billardkugeln und die mit den in Gold gehaltenen Initialen. Die Schlüsselringe mit Mercedes-Stern und Opel-Zeichen, und auch diese Art Schlüsselanhänger, der angeblich piepen sollte, wenn man ihn pfeifend suchte.

Bald, so befürchte ich, werden kleine Läden in Berlin-Mitte solche Mäppchen verkaufen, mit den momentan überall aufpoppenden Herz-Slogans bedruckt. Am wertvollsten aber werden die Originale mit den Aufdrucken untergegangener Automarken sein. Unser Nachbar mit den Tomatensträuchern prescht da schon mal vor. Auf seinem Schlüsselmäppchen steht in abgenutzten, goldenen Buchstaben der Name und die Adresse einen Saab-Autohauses. NATALIE TENBERG

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