piwik no script img

Die Nacht der Blauen

Nach dem Sieg im WM-Finale feiern die Fans der Italiener siegestrunken in der City West. Die Anhänger der Franzosen hingegen versinken in Trauer – vor allem über den Ausraster von Zidane

Von Nadja DUMOUCHEL und Karin Schädler

Jetzt wird erst mal Geld gezählt. Wer das WM-Finale im „Preußischen Landwirtshaus“ neben dem Olympiastadion auf Leinwand ansieht, hat entweder keine Karte für den Stadionbesuch ergattern können – oder er hat viele davon verkauft. Während zwei Männer in Italientrikots ihre Einnahmen aufteilen, herrscht zwei Meter weiter in dem voll gepackten Raum Katzenjammer. Es ist die 110. Spielminute, und vielleicht die, die in Erinnerung bleiben wird. „Zidane!“, schreit sich Ali Oumohand den Schmerz aus der Seele. Der Franzose kann noch gar nicht glauben, dass der Spielmacher seines Teams vom Platz gestellt wurde. Weil er einem Italiener seinen Kopf in die Brust gerammt hat – in voller Absicht.

„Warum hat er das gemacht?“, fragt Ali Oumohand ungläubig. Der 27-Jährige ist am Sonntagmorgen in Paris losgefahren, um das Finale live zu erleben. Aber die Karte auf dem Schwarzmarkt war ihm zu teuer – 3.000 Euro, das konnte er nicht bezahlen. Nun steht Oumohand zwischen Herren- und Frauentoilette in dieser Kneipe und versucht über mehrere Köpfe hinweg, einen Blick auf die Leinwand zu ergattern. „Ich fahre gleich nach Paris zurück – ich muss morgen früh arbeiten“, sagt der Informatiker. 20 Stunden hin und zurück, nur um eine riesige Enttäuschung zu erleben.

Sturm aufs Stadion

Wenige Minuten später. Die einen trauern, die anderen jubeln: Italien ist Weltmeister. Und der Straßenkampf beginnt. Wer nicht im Stadion ist, will rein. Mit Fahnen bewaffnet, stürmen italienische Fans die Gitter an den Seitenausgängen und hängen sich an die grauen Absperrungen. Sie sind wütend. „Warum dürfen wir nicht rein? Es ist unser Recht!“, schreit ein Italiener mit Totti-Trikot. „Weg da!“, brüllt ein Polizist zurück. Auf einen Kampf wollen die italienischen Fans es dann doch nicht anlegen.

Überdreht jubeln sie stattdessen immer wieder: „Siamo campioni del mondo!“ Sie fassen sich an den Schultern und tanzen im Kreis. Dass sie bei der Siegerehrung im Stadion nicht dabei sein können, kann sie nicht davon abhalten, draußen ihren Nationalspielern zu huldigen. Wer nicht dazugehört, hat Angst, eine Fahne ins Gesicht zu bekommen. Und immer wieder hört man den Abgesang auf den Gegner: „Adieu les bleus!“

Die Anhänger der „bleus“ verlassen das Stadion, noch bevor das Feuerwerk beginnt. Still laufen sie in Richtung U-Bahn. Der fast volle Mond scheint auf ihre traurigen Gesichter. Von den Rufen der Italiener lassen sich manche provozieren und brüllen französische Schimpfwörter zurück. Damien Dumont und Frédéric Larochelle sehen die Niederlage hingegen sportlich. Sie möchten trotzdem feiern gehen. Die beiden 34-Jährigen aus Paris sehen keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen: „Wir wurden von den Deutschen seit Anfang der WM immer gut empfangen. Wir wüssten nicht, warum es jetzt anders sein sollte.“ Aber auch die Aussicht auf eine belebte Innenstadt kann ihre Enttäuschung nicht mindern: „Es ist ein großes Unglück, dass ein Künstler wie Zidane mit einer Roten Karte seine Karriere beendet.“

Ein italienischer Pizzabäcker aus London schwelgt vor dem Stadion in Fußballerinnerungen. „Als Italien 1982 zum letzten Mal Weltmeister wurde, war ich gerade zwei Jahre in London“, erzählt Antonio Malletti. „Ich war dort Koch und konnte das Spiel gar nicht sehen. Aber jetzt habe ich mein eigenes Geschäft, also müssen in diesem Moment nur meine Mitarbeiter schuften.“

Der 52-Jährige ist sichtlich zufrieden mit seinem sozialen Aufstieg, der ihm die Freiheit brachte, Fußball zu schauen. „Jetzt fahren wir zurück nach London, mit der italienischen Flagge am Auto“, sagt sein Angestellter Andreo Betto. „Noch nie habe ich mich so gut gefühlt. Mein Traum ist in Erfüllung gegangen“, schwärmt der 28-jährige Koch und will am liebsten alle Menschen um sich herum umarmen und küssen.

Die Franzosen sehnen sich eher nach Trost. Ein junger Mann mit Baskenmütze lässt sich nicht von der depressiven Stimmung seiner Landsleute anstecken. In der U-Bahn kritzelt er ein Flirtangebot auf eine kleine französische Fahne: „Kommst du noch mit uns nach Kreuzberg feiern?“ ist da zu lesen. Darunter drei Kästchen zum Ankreuzen mit den Antworten „Ja“, „Sehr gerne“ und „Ein anderes Mal“. Mit einem Kuss auf die Wange überreicht er sein Werk einem verdutzten Mädchen. Ihre Gesichtsfarbe wechselt in das Rot der französischen Fahne, bevor sie „Ein anderes Mal“ ankreuzt. Enttäuscht steigt der Fan aus und begibt sich auf die Suche nach freudigeren Partygesellen.

Die gute Stimmung haben nach dem Finale die Italiener gepachtet. Sogar die „Carabinieri“ feiern mit. Ein dunkelblaues Auto älterer Bauart trägt zumindest die Aufschrift der italienischen Schutzpolizei. Die Party ist laut beim Autokorso in der Tauentzienstraße. Stolz steht eine Italienerin in ihrem blauen Jeep, fast wie in einem römischen Streitwagen. Ein anderer Fan hat die Schlacht schon verloren. Neben seinem schwarzen Alfa Romeo steht er ratlos am Straßenrand, aus der Kühlerhaube steigen Rauchschwaden empor. Daneben hält Sid Ifrah als Einziger eine blauweißrote Fahne hoch, auf der „Zidane“ steht. „Zidane ist Algerier. Ich bin Algerier“, sagt der 25-Jährige. Seine „Zizou“-Rufe werden aber von Trillerpfeifen und Hupen übertönt.

Feiern auf Italienisch

Zwischen den Autos rennen Fußballbegeisterte umher. Kurz vor der Gedächtniskirche ist Schluss mit dem anarchischen Treiben. Alles läuft wieder in geordneten Bahnen, Polizisten schicken die Passanten auf den Gehweg. Zwei Italienerinnen finden die Beamten wohl zu missmutig. Fahnen schwenkend stellen sie sich ein paar Meter vor ihnen auf, um den Fans fröhlich lachend die richtige Richtung zu weisen.

Am anderen Ende der Stadt herrscht dagegen Stille. Die Kneipe „Visite ma tente“ in Prenzlauer Berg bietet französischen Fans die richtige Atmosphäre, um sich von dem „Zizou-Schock“ zu erholen. Ein paar Stunden nach ihrer Niederlage sind die Franzosen wieder ganz sie selbst. Eine Gruppe spricht über französisches Essen und kulinarische Höhepunkte im Elsass. Dann stimmen sie leise das Lied „Le coq est mort“ an. In dem melancholischen Kanon wird um einen toten Hahn getrauert. Gemeint ist nicht der Hahn aus dem „Coq au vin“-Gericht, über das sie gerade noch sprachen, sondern der Hahn, der ihre Trikots ziert und für den französischen Fußballbund steht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen