: Kurdischer Flaschengeist
IRRITATIONEN Die Türkei hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Dennoch sprechen jetzt im Südosten wieder die Gewehre
VON ÖMER ERZEREN
Im türkischen Feuilleton ist derzeit viel von Vaterland und Verrat die Rede. Die Schriftstellerin Oya Baydar bezieht sich in einer Kolumne auf das Gedicht „Der Vaterlandsverräter“ des 1963 verstorbenen kommunistischen Poeten Nazim Hikmet, der ein Leben lang in der Türkei eingekerkert und verfolgt wurde und 1963 im Exil starb. Wenn Ausbeutung, Imperialismus und Polizeiknüppel das Vaterland ausmachten, wie der Dichter vor mehr als einem halben Jahrhundert befand, sei nichts dagegen einzuwenden, ihn in den Schlagzeilen der Zeitungen als Vaterlandsverräter anzuprangern. Man möge sie ruhig als Vaterlandsverräterin brandmarken, bemerkt Oya Baydar heute, wenn Vaterland Blut, Krieg und Tod bedeute.
Baydars Kolumne ist ein emotionaler Appell an die politisch Verantwortlichen, ihre Ängste zu überwinden und mit radikaler Courage den kurdischen Konflikt anzugehen. Nachdem die kurdische Guerillaorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) ihren Waffenstillstand aufgekündigt hat und mit Anschlägen auf Militärposten und Bombenattentaten eine Spur der Gewalt zeichnete, hörten die Türken von den Politikern nur die militaristische Schablone vom „Kampf gegen den Terrorismus“. Warum – so Baydar – gebe es keinen Dialog mit der PKK, mit dem im Gefängnis einsitzenden Führer Abdullah Öcalan, der mehrfach angeboten hat, das Blutvergießen zu stoppen.
„Dialog mit Terroristen“ – vor einem Jahrzehnt noch wäre die Autorin öffentlich für ihre Äußerung gelyncht worden. Doch die Türkei hat sich verändert. Den verfemten Kommunisten Nazim Hikmet hat der Staat im vergangenen Jahr posthum rehabilitiert. Zeremoniell wurde ihm die türkische Staatsbürgerschaft wieder verliehen, und der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan zitiert ein Gedicht sehr gern, wenn es um türkisch-kurdisches Zusammenleben geht: „Leben, einzeln und frei, wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald.“
Die linke Schriftstellerin Baydar repräsentiert sicherlich nicht den Mainstream des türkischen Feuilletons. Doch selbst einige politische Kommentatoren der großen Tageszeitungen fanden es an der Zeit, den Appell Baydars aufzugreifen.
Ganz zu schweigen von einer Kolumne von Ertugrul Özkök, dem Chefkolumnisten der türkischen Tageszeitung Hürriyet, dem radikale, linke Ideen ein Graus sind. Er stellte die einfache Frage: „Müssen Türken und Kurden zusammenleben?“ Munter preschte er in vermintes Gebiet: „Ich sage nicht unbedingt Sezession. Ich sage, dass ein Miteinander unter Zwang nicht möglich ist. Noch mehr Blut erschwert das Zusammenleben.“
Hasip Kaplan, Abgeordneter der kurdischen BDP, witterte in den Äußerungen Özköks die Seele Hitlers, den Holocaust und den Genozid. Verantwortungslos sei es, von Sezession zu reden. Er sei Kurde, seine Frau sei Türkin – wie wolle der Hürriyet-Kolumnist ihre Kinder auseinanderdividieren. Wohlgemerkt ist Kaplan Abgeordneter einer Partei, die der PKK nahesteht.
Welche Irritationen in der Debatte. Früher waren die Fronten geklärt. Böswillige Terroristen wollten Nation und Vaterland zerstören, und bis zum letzten Blutstropfen sollte die Armee die „Vaterlandsverräter“ ausmerzen, meinten die Wasserträger des staatlichen Militarismus. Das kurdische Volk war inexistent. Und da gab es noch die liberalen und linken Kritiker, die davon sprachen, dass der Staat das Existenzrecht und die kulturelle Identität der Kurden leugne und unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung Staatsterror praktiziere.
Vieles hat sich im letzten Jahrzehnt verändert. Niemand leugnet heute die Existenz der Kurden. Politiker buhlen auf Kurdisch um Wählerstimmen. Der staatliche Fernsehsender TRT sendet auf Kurdisch. Die Universitäten gründen Kurdologie-Institute. Der Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen ist längst aufgehoben. Doch vieles liegt noch im Argen. Bis heute gab es keinen ernsthaften Vorstoß in Richtung muttersprachlichen Unterricht.
Grenzübergang Habur
Im vergangenen Sommer herrschte Aufbruchstimmung. Großspurig verkündete der türkische Ministerpräsident Erdogan eine „demokratische Öffnung“ in der Kurdenfrage. In der Parlamentsrede im vergangenen Jahr verglich er gar die Sorgen einer Soldatenmutter mit denen einer Mutter, deren Sohn bei den Guerilleros ist. Doch dann ereigneten sich Szenen, die die Regierung heute als „Betriebsunfall“ der demokratischen Öffnung einstuft.
Auf Geheiß des auf der Gefängnisinsel Imrali einsitzenden PKK-Führers Abdullah Öcalan reisten im Oktober vergangenen Jahres acht PKK-Guerilleros über den Grenzübergang Habur als „Friedensbotschafter“ in die Türkei ein. Der türkische Staat hatte Staatsanwälte und Untersuchungsrichter an den Grenzübergang beordert, die dort die Vernehmungen durchführten. Nach mehreren Stunden der Befragung wurden die Männer und Frauen schließlich auf freien Fuß gesetzt.
Daraufhin feierten zehntausende Kurden mit Sprechchören, PKK-Fahnen und Bildern des inhaftierten Abdullah Öcalan die Ankunft der PKK-Guerilleros. Die Fernsehbilder vom Grenzübergang lösten im Westen der Türkei einen Sturm der Entrüstung aus. Nationalistische Kreise mobilisierten Mütter gefallener Soldaten. Die Regierung zog sich in die Defensive zurück und beteuerte, dass sie nie mit Terroristen verhandeln werde. Nach den jüngsten Toten hörte man von Regierungsvertretern Worte zur Terrorismusbekämpfung, die an die achtziger und neunziger Jahre erinnerten, doch auch Ungewohntes. Und wieder sind wir beim Verrat. „Die demokratische Öffnung zu Grabe zu tragen bedeutet Verrat“, sagte jüngst Ministerpräsident Erdogan.
Seit fast zwei Jahrzehnten hat die PKK die Forderung nach einem unabhängigen Staat aufgegeben. „Demokratische Autonomie“ heißt heute das Zauberwort. Doch sind Bombenanschläge verhältnismäßig, wenn es nur um „demokratische Autonomie“ geht? Längst geht es nicht mehr um Inhalte. Für viele Kurden sind die Organisation und ihr Führer Öcalan zu einem Symbol kurdischer Identifikation geworden. Es geht schlichtweg um Anerkennung. Es geht darum, von dem türkischen Staat ernst genommen zu werden. Warum der PKK verweigern, was man der IRA zugestanden hat?
Fragen, die über Jahrzehnte tabuisiert waren, werden heute im politischen Feuilleton gestellt. Keine geringere Kraft als der boomende türkische Kapitalismus, der stark vom Export abhängig ist, ist letztendlich Motor der Veränderung, die einen Kurswechsel in der Außenpolitik einleitete und nun auch zu einer Lösung der kurdischen Frage im Innern drängt. Längst gehört die bipolare Welt des Kalten Kriegs der Vergangenheit an. Vorbei die Zeiten, als die Türkei abgekoppelt vom Balkan und nahöstlichen Nachbarn die Rolle des Außenpostens der Nato gegen die Sowjetunion spielte.
Mit Syrien stand die Türkei vor einem Jahrzehnt am Abgrund eines Kriegs. Heute kann man ohne Visum zwischen Syrien und der Türkei reisen. Die Staaten wollen Minenfelder räumen, um im Grenzgebiet ökologischen Landbau zu betreiben. Die Autonome Region Kurdistan im Norden des Iraks genießt relative Unabhängigkeit von der Zentralregierung in Bagdad und verfügt über Öl- und Gasressourcen. Über lange Zeit hinweg unterstützte die Türkei Bagdad gegen die Kurden.
Heute hat die Türkei die irakischen Kurden als Geschäftspartner ausgemacht. Es existieren hervorragende Wirtschaftsbeziehungen: Die Türkei ist mittlerweile größter Investor in Irakisch-Kurdistan und stellt den Energiekorridor von Öl und Gas zu den Raffinerien und dem Hafen Ceyhan am Mittelmeer. Die Türkei und die Autonome Region Kurdistan sind zu zwei Akteuren mit gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen geworden. Zweifelsohne ist eine bewaffnete Guerilla in den Bergen dabei höchst störend.
Die Attacken Erdogans auf Israel und die Parteinahme für die Palästinenser nach dem Eklat mit der Gaza-Hilfsflotte sind nicht nur Entrüstung darüber, dass israelische Militärs auf internationalen Gewässern ein türkisches Schiff kaperten und türkische Staatsbürger töteten. Sie spiegeln den Interessenkonflikt zwischen Israel und der Türkei in der Region wider. Noch 1996 bekannte ein türkischer Verteidigungsminister, dass er weder den Geheimhaltungsgrad noch den Inhalt eines abgeschlossenen israelisch-türkischen Militärabkommens kenne. Die türkischen Militärs hatten den Deal ausgeheckt ganz ohne die Politik.
Die Militärs sind heute entthront, die türkischen Fernsehsoaps ein Exportschlager in arabischen Ländern. Als demokratische Regionalmacht, die den Segen des Kapitalismus verbreitet, will die Türkei in der Region um Ansehen und Einfluss buhlen. Kein Wunder, dass konservative, liberale und linke Kolumnisten mal ganz in Eintracht einen Widerspruch der herrschenden Politik ausgemacht haben. Wie kann ein Land, das nicht in der Lage ist, den kurdischen Konflikt im Innern zu lösen, glaubwürdig im israelisch-palästinensischen Konflikt auftreten. So spottet der islamisch-konservative kurdische Intellektuelle Altan Tan über Erdogans Anspruch, eine Führungsrolle im Nahen Osten zu übernehmen: „Einen Familienvater, der in seiner eigenen Familie Streit mit Kindern und Geschwistern hat, wählt man schließlich nicht zum Dorfvorsteher.“ Der kurdische Flaschengeist scheint – so lehrt uns das türkische Feuilleton – der Flasche entwichen zu sein.
■ Ömer Erzeren, langjähriger taz-Autor, lebt heute überwiegend in Istanbul und Buenos Aires
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