Am Ort des Moments: Die Karl-Marx runter
Hasenheide rechts, der verwaiste Personaleingang von Karstadt links: Heute habe ich mir die Karl-Marx-Straße vorgenommen. Wenn ich Leuten all over the world erzähle, dass ich nur einen Block von einer Straße entfernt wohne, die nach dem Begründer des Kommunismus benannt ist, dann glaubt mir das kein Mensch. Aber es ist so. Every thing is possible, in Berlin!
Karl Marx ist auch nicht weiter schlimm. Sein Name 2010 nur noch Dekor. Die Unterschicht, die sich vor nicht allzu langer Zeit als eine kritische Masse hinter charismatischen Führerfiguren hätte akkumulieren und auflehnen sollen, verteidigt nun stattdessen 1-Euro-Läden, Gözleme- und Dürüm-Döner. Dazwischen die Sonder-Bar, wo ein paar Polen auf schon im Vorhinein verlorene Champions-League-Spiele wetten. Und dann die Redukte der neuen Invasoren von Arabisch-Neukölln: Bohemians aus Prenzl’berg, Neuschwaben, New Zealand oder Newark: Scheckige, schlanke Jungs und Mädchen mit asymmetrisch geschnittenen Tollen – es sieht so aus, als hätte ihr türkischer Neun-Euro-Friseur nach der Hälfte der Kopfschwarte kapituliert. Mit sich nach unten unendlich verengenden Jeans schlaksen sie die Fulda-, die Weichsel-, die Donau-, die Weserstraße hinauf. Um in der Location des Moments ihre Spuren zu hinterlassen.
Derweil dreht sich auf der Karl-Marx ein Pärchen um eine Ampelstange. Ein Geschwader von Mädchen in Leggins auf Fahrrädern überholt sich auf der Überholspur. Ein alter Mann stolpert aus einer Shisha-Bar und zündet sich eine Mentholzigarette an. Zwei Mädchen aus Luxemburg klappen einen Stadtplan auf und stöhnen: Wo ist hier verdammt noch mal der Wedding? Drei junge Männern okkupieren ganz selbstverständlich den gesamten Gehsteig. Irgendwo da unten der Turm von Rathaus Neukölln, die bunten Lichter, die blaue Stunde. TIMO BERGER
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