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Ganz oder gar nicht, bis zur Erlösung

Sie warten auf die Herrschaft Gottes, denn die Theokratie gilt ihnen als einziger Ausweg aus dem Elend auf Erden. 40.000 Zeugen Jehovas trafen sich am Wochenende zum Kongress in Hamburg, doch die Sektenbeauftragte der Stadt hält sie weiterhin für Fundamentalisten, die Angstphilosophie lehren

Offenbar muss erst alles ganz schlimm kommen, bis die Herrschaft Gottes die Erlösung bringt. Bis er losgeht, sein Krieg gegen die Menschheit, in dem sich entscheiden wird, wer würdig ist, in seinem Paradies zu leben

von Martina Helmke

„Es ist die Wahrheit“, raunt Anna, die Seniorin und langjährige Zeugin Jehova. Sie ist die Erste, welche die unbedarfte Zuhörerin zu missionieren sucht beim großen Sonderkongress der Zeugen Jehovas in der AOL-Arena. Alle anderen scheinen sich an meiner Ungläubigkeit nicht besonders zu stören. Die Sitznachbarin auf der Stadiontribüne bietet mir schüchtern den Blick in ihre Bibel an, aus der Geoffrey Jackson, der Vortragende, regelmäßig zitiert. Machtvoll schallt seine Predigt durch das Stadion und findet ihr Echo in den zahlreichen Übersetzungen für die knapp 40.000 Anwesenden aus verschiedenen Nationen. Es gibt sogar einen eigenen Block für Gebärdensprache.

Es ist eine friedliche Versammlung am Wochenende. Trotz der Fülle gibt es kein ungeduldiges Gedränge, die Menschen grüßen einander auf dem Weg vom WC zur Zuschauertribüne. Sie lächeln viel, wirken entspannt und tragen ihre Festtagsstimmung offen zur Schau. Kaum jemand, der sich nicht aufwändig in Schale geworfen hat. Von bunter Tamilentracht über top-modische Kleider bis hin zum sorgfältig gebundenen Schlips scheint alles vertreten.

Nach dem Kongress werden sie gemeinsam sauber machen in der Arena. „Sehen Sie, das ist nicht so wie bei der WM“, sagt Anna lächelnd und beißt genüsslich von einer Karotte ab. Zur Beschäftigung. Damit sie nicht einschläft, sagt sie.

Jacksons spricht über die nahe Befreiung. Seine Worte sind schlicht und deutlich. Er spricht vom Elend der Welt und dem vergeblichen Versuch der Menschheit, sich davon zu lösen. Er rechnet ab mit Wissenschaft und Technik, Politik und Bildung und sogar mit der Religion. Alles was jene „vier Wege“ den Menschen gebracht hätten, sei verschwindend klein im Gegensatz zum Bösen, das sie hervorriefen.

In Jacksons Bild dieser Welt scheint es absolut nichts Gutes zu geben. Sie ist durch und durch schlecht. Und weil sie immer noch schrecklicher wird, so sein Glaube, rückt die Befreiung in immer greifbarere Nähe. Offenbar muss erst alles ganz schlimm kommen, bis die Herrschaft Gottes die Erlösung bringt. Bis er losgeht, sein Krieg gegen die Menschheit, in dem sich entscheiden wird, wer würdig ist, in seinem Paradies zu leben.

Jackson spricht von „Selektion“. Dabei hatte doch Jörn Puttkammer, Pressesprecher der Zeugen Jehova, gerade noch über „Nazi-Kampfbegriffe“ wie das Wort „Sekte“ geschimpft, als wir im heißen Organisations-Büro saßen und über seine umstrittene Glaubensgemeinschaft sprachen. Und eines hatte ihm besonders am Herzen gelegen: Jehovas Zeugen seien nicht so weltfremd, wie immer getan werde. Im Gegenteil. Es gäbe ein besonderes Interesse an Nachrichten und auch an Zeitungen.

Im Gegensatz zu Jackson betonte er auch die Bedeutung von Bildung. „Viele von uns sprechen mehrere Sprachen.“ Sie seien weltoffen, was sich an den vielen vertretenen Nationen zeige, und gastfreundlich. „Bei mir zuhause leben dieses Wochenende einige angereiste Glaubensbrüder“, ergänzt seine Mitarbeiterin Zibulla. „Ich kenne sie nicht, dennoch vertraue ich darauf, dass am Montag noch mein Geld an seinem Platz ist. So etwas gibt es bei den Kirchen nicht, wenn irgendwo ein Großereignis stattfindet.“

Doch wie ist es mit dem privaten Umfeld? Zeugen Jehovas sollen doch so abgeschottet leben. „Also mein Freundeskreis besteht aus Zeugen und Nichtzeugen. Fifty-fifty schätze ich“, sagt die 18-jährige Melina Kunze aus Lübeck. Sie ginge genauso abends aus wie ihre Freundinnen, auch wenn das Leben natürlich irgendwo von der Glaubensgemeinschaft geprägt sei. Und sie sieht auch nicht verklemmt aus, trägt Make-Up und glitzernde Haarspangen.

„Wir wollen uns nicht ausschließen aus der Gesellschaft.“, betont Puttkammer. Daher sei es wichtig, dass Eltern regelmäßig zu Elternabenden gingen, dass sie ihren Kindern Toleranz beibrächten gegenüber Minderheiten jeder Art. Auch für Homosexuelle? „Wer homosexuell ist, kann nicht Zeuge werden. Diese Lebensweise wird in der Bibel eindeutig abgelehnt“, sagt Zibulla. Doch natürlich würden Schwule und Lesben respektiert: „Man kennt die Menschen ja nicht, ihr Schicksal und ihre Lebensgeschichte.“

Was in der Bibel steht, gilt. Sie ist ein zeitloser Ratgeber für die Zeugen Jehovas, ihr folgt man „ganz oder gar nicht“. Sie glauben an die eine Liebe im Leben und lehnen jegliche vorehelichen sexuellen Erfahrungen ab. „Wir sind gegen eine Sexualisierung des Lebens, wie sie durch die Medien geschieht“, meint Puttkammer. „Am besten, die Leute schmeißen ihren Fernseher einfach aus dem Fenster.“

Und sie lehnen den Kriegsdienst ab. Diese Haltung bildet auch eine der Grundlagen für ihr politisches Verständnis. Sie sind gegen jedes politische System, auch die Demokratie. Daher wird man auch keinen Zeugen jemals an der Wahlurne begegnen. Selbst die Demokratie hat, ihrer Meinung nach, zu viele Fehler. Doch Alternativen für das Leben im Hier und Jetzt haben sie nicht: „Wir warten auf die Theokratie. Sie ist der einzig wahre Weg aus dem Elend.“

Und sie warten bereits über hundert Jahre. Ein Datum können sie nicht nennen, doch es gebe Zeichen. Der Zustand der Welt sei ein solches. Und wie sieht das Ende aus? „Für uns wird es kein Ende sein“, meint Puttkammer, „sondern ein neuer Anfang für alle, die in Gottes Sinne gelebt haben.“ Und das müssten nicht nur Zeugen Jehovas sein. Wen Jehova auswählt, liege allein in seinem Ermessen.

Diese Einstellung können viele Aussteiger jedoch nicht bestätigen. Immer wieder hört man von Berichten, in denen die Ausschließlichkeit und der Fanatismus der Zeugen Jehovas beklagt werden. Zucht und Ordnung als Erziehungsmethode und die Kontrolle des Individuums sind Beispiele, die in krassem Widerspruch zur äußeren Selbstdarstellung stehen. Doch das sei alles übertrieben, meint Puttkammer. Niemand werde zur Missionsarbeit gezwungen. Diese Einstellung käme von selbst, und das sei wichtig. Ein Indiz sei die Vermeidung der Kindstaufe: „Wir möchten, dass der Mensch sich aus eigenen Stücken für diesen Weg entscheiden kann.“

Ursula Caberta, die Sektenbeauftragte des Hamburger Senats, traut den Glaubensvertretern nicht. Wie die meisten fundamentalistischen Gruppen hielten die Zeugen Jehovas ihre Mitglieder durch eine „lebensbestimmende Angstphilosophie“ innerhalb der Glaubensgemeinschaft. Während des seit vielen Jahren andauernden Prozesses zur Erlangung der Körperschaftsrechte hatten sich die Zeugen immer wieder bemüht, in einem guten Licht dazustehen. Doch wie es tatsächlich bei internen Versammlungen abläuft, lasse sich höchstens erahnen. „Die machen eben die Schotten dicht“, meint Caberta.

Auch sie habe gehofft, dass sich die radikale Einstellung der Zeugen Jehovas verändern würde, doch sie wurde enttäuscht: „Die letzten Reden, die ich gehört habe, klangen nach einem Rückfall in die 50er und 60er Jahre.“

Von Weiterentwicklung, sagt die Sektenexpertin, „keine Spur“.

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