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Sichtlich geschockt

Augenzeugen sind in Kriegszeiten sehr gefragt. Oft treten dann auch die auf den Plan, die nicht nur ganz harmlos ihre Eindrücke schildern wollen. Was wirklich geschah, erfährt man dann selten

Von Kerstin Speckner

„Was im Fernsehen nicht gezeigt wird“, verspricht eine Mail ihren LeserInnen zu zeigen. Diese Nachricht wurde massenhaft versendet, viele der Zieladressen mit arabischen Namen. Mails dieser Art kursieren derzeit en masse, der Krieg im Nahen Osten bewegt anscheinend viele dazu, mit Bildern, angeblichen Originalberichten und Statements von „Augenzeugen“ weltweit virtuelle Postfächer zu füllen.

Die „Fernseh“-Mail zeigt Fotos, ergänzt durch zynische Kommentarzeilen auf Englisch und Arabisch: Ein junger Mann wird von einer Gruppe bewaffneter Männer in Uniform verhaftet und auf den Boden gedrückt. Im Begleittext heißt es, es seien israelische Soldaten, die hier einen 23-jährigen Palästinenser schikanieren. Dann die Frage, was in einem demokratischen Land wie Israel im Anschluss mit diesem Mann wohl passieren wird. Das nächste Bild zeigt den Mann auf der Straße liegen, bis auf die Unterwäsche entkleidet und in einer Blutlache.

Weil das Fernsehen eben nicht alles zeigt und auch nicht zeigen kann, bleibt am Rande der „offiziellen Nachrichten“, die oft um Ausgewogenheit bemüht sind, viel Platz für die Berichte von Augenzeugen. Diese kann man jedoch meist weder auf ihre Authentizität noch auf ihre Motivation, das Erlebte kundzutun, prüfen. Das kann auch bei den „Großen“ danebengehen. Im „ZDF-Morgenmagazin“ etwa trat am Montag eine junge libanesischstämmige Politikwissenschaftlerin auf, die erst die schrecklichen Erlebnisse ihrer Familie in Beirut und dem Südlibanon schilderte, um plötzlich die Hisbollah mit Nelson Mandela zu vergleichen: „Er galt ja auch lange Zeit seines Lebens als Terrorist“ – die Moderatorin war sichtlich geschockt.

Trotzdem haben Augenzeugen Hochkonjunktur. Ihre Berichte können durchaus interessante Ergänzungen zu faktendominierten, um Ausgewogenheit bemühten Nachrichten sein – oder eben Propaganda.

Subjektive, ausschnitthafte Geschichten kann man selten überprüfen, selbst wenn, anders als in der Mail, Datum und Ort des Geschehens genannt werden. Das einzig Handfeste ist der Vorname des angeblichen Opfers. Augenzeugenberichte leben vor allem von dem, was jemand wahrnimmt, nicht von dem, was passiert oder beweisbar ist.

Weil sich dies oft unterscheidet, gibt es neben dem „offiziellen Nachrichtenprogramm“ viele, die der Welt mitteilen wollen, was wirklich geschieht. Wo und wann die Bilder von den Soldaten entstanden, ob sie manipuliert sind, bleibt unklar. Für die zahlreichen Weitersender – und die nicht erkennbaren Urheber – scheint das auch nebensächlich zu sein. Wichtiger scheint für sie die politische Message: Israel ist ungerecht und brutal. Wir stehen auf der Seite der Libanesen.

Und das sollten möglichst alle wissen: „Bitte an alle Leute, die du kennst, weiterleiten, besonders an Juden und Westler, damit sie einmal sehen, was sie im Fernsehen nicht zu sehen bekommen“, steht ganz unten.

Wer niemanden vor Ort kennt, muss sich auf die verlassen, die öffentlich über Erlebtes reden wollen – und in Kauf nehmen, dass Augenzeugen mehr loswerden wollen als nur das, was sie erlebt haben.

Für alle, die weder Bekannte im Libanon noch in Israel haben, gibt es ab morgen auf taz zwei Post von beiden Seiten, im Wechsel aus Beirut und Israel. Aus Haifa schreibt Ron Kehrmann, ein deutschsprachiger Israeli, der eine Druckerei besitzt. Seine Tochter kam im März 2003 durch ein Bombenattentat auf einen Bus in Haifa ums Leben.

Aus dem Libanon schreibt Iman Younes. Sie lebt in Aschrafieh, dem christlichen Viertel der Hauptstadt Beirut, und ist von Beruf Schriftstellerin.

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