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Ein Kontinent zwischen zwei Buchdeckeln

REVOLUTIONEN Wie die Idee der Freiheit wandert: Stefan Rinke hat eine knappe und sehr gut lesbare Geschichte zum Weg Lateinamerikas in die Unabhängigkeit (1760–1830) geschrieben

„Revolutionen in Lateinamerika“ – der Titel weckt Assoziationen. Vermutlich haben einige potentielle Leser erst auf den zweiten Blick gemerkt, dass es bei dem Buch des Historikers Stefan Rinke nicht um Geschichten aus Kuba und dem bolivianischen Regenwald geht. Im Blickpunkt stehen die Unabhängigkeitskriege und es scheint gängig, auch für diese Zeit von Revolutionen zu sprechen, auch wenn dies in mancher Hinsicht irreführend ist. So war die Unabhängigkeit Brasiliens sicherlich keine Revolution, höchstens eine „von Eliten für Eliten“, wie Rinke selbst schreibt.

Der Titel spielt auf die Auswirkungen der Französischen und Amerikanischen Revolution in Lateinamerika an. Bei den kreolischen Eliten, aber auch unter Sklaven und Indigenen, verbreiteten sie die Ideen von Freiheit und Gleichheit und setzten damit ungeahnte Kräfte frei. Die Umsetzung dieser Ziele war mit den Unabhängigkeitserklärungen längst nicht erreicht, doch die Ideen hatten sich festgesetzt.

Rinkes narrativ-analytisches Buch hilft, sich über die entscheidende Epoche der lateinamerikanischen Geschichte ein Bild zu machen. Er schafft es, auf 300 Seiten eine Geschichte zu erzählen, die einen Kontinent zwischen zwei Buchdeckel presst, der für eine ganze Bibliothek zu groß ist. Er arbeitet Differenzen heraus und zeigt Gemeinsamkeiten auf, ohne dabei den Blick fürs Detail zu verlieren. Mehr Quellen und Zitate hätten das Buch anschaulicher machen können, auch von den schönen Illustrationen sähe man gern mehr.

Wahrlich als Revolution kann in dieser Zeit nur das gelten, was auf Haiti passierte – der einzige erfolgreiche Sklavenaufstand der Geschichte, der in die Unabhängigkeit führte und die erste Republik mit einer Regierung mit afrikanischer Herkunft hervorbrachte. Der brutale Konflikt zwischen Sklaven und französischen Kolonialherren hat nicht nur für die Insel und ihre Bewohner krasse Veränderungen gebracht, sondern auch im Bewusstsein über Schwarze und Unterdrückte im Allgemeinen einige Bilder verwurzelt: „Eine höchst problematische Folge der Revolution von Saint-Domingue war die Gleichsetzung der Sklavenbefreiung mit Chaos, Anarchie und ungezügelter Grausamkeit, die sich in den Köpfen vieler Zeitgenossen festsetzte“, schreibt Rinke und eröffnet damit weitergehende Fragen, denen zu folgen das Buch Lust macht.

Rhetorik vom Chaos

Das Denken, dass sozialer Wandel zu Chaos führt und die Entrechteten dies zu Recht sind, weil sie andernfalls alles für alle schlimmer machen, ist bis heute, wenn auch in demokratisch-korrekter Rhetorik verpackt, ein Bestand konservativen Weltverständnisses. Mindestens im atlantischen Raum hat die Haitianische Revolution dem Konservatismus Startkapital mitgegeben, wie Rinke zeigt.

Ideengeschichtliche Ansätze wie dieser finden sich im gesamten Buch und heben es über eine reine Ereignisgeschichte hinaus. Das Buch dürfte ein Standardwerk werden, das mit vielen Verweisen auf weiterführende Literatur jedem Leser den Einstieg in diese Zeit der Verwicklung von regionalen, nationalen und transatlantischen Ideen und Bestrebungen bietet.

Die Unabhängigkeit Lateinamerikas ist keine Überraschung angesichts der Entwicklung der Kolonialgeschichte und der Verwerfungen auf der Iberischen Halbinsel. Und die Revolutionen, die dort statt gefunden haben, führten zumindest teilweise in den darauf folgenden Jahrzehnten dazu, ein altes System mit neuem Namen zu festigen. Der Weg zu festen Verfassungen, dauerhaften Regierungen und staatlichem Gewaltmonopol war mit der bloßen Ausrufung von Republiken noch nicht zu Ende. Und ein wirkliches Ende scheint an manchen Orten auch noch nicht in Sicht. FRAUKE BÖGER

■ Stefan Rinke: „Revolutionen in Lateinamerika – Wege in die Unabhängigkeit 1760–1830“. Beck 2010, 392 Seiten, 29,95 Euro

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