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Lecken im Zeichen des Kreuzes

MAISCHBERGER Wie beim Thema Homosexualität Putins Propagandaabteilung in eine deutsche TV-Talkshow geriet

VON HANS HÜTT

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Dieser Satz Niklas Luhmanns gilt mit gleicher, vielleicht sogar noch größerer Wucht für alles, was wir über unsere Gesellschaft nicht wissen (wollen). Sandra Maischberger ist es am Dienstagabend in ihrer Sendung „Homosexualität auf dem Lehrplan: Droht die ‚moralische Umerziehung‘?“ gelungen, das Nichtwissen über unsere Gesellschaft zu mehren.

Die Sitzordnung ihrer Gäste folgt den Linien des orthodoxen Kreuzes. An seiner Spitze sitzt die Moderatorin. Rechts von ihr die Transe Olivia Jones. Ihr gegenüber die Focus-Fundamentalistin Birgit Kelle. Sie bilden die erste kurze Querachse des Kreuzes. An den Enden der zweiten langen Querachse sitzen der Evangelikale Hartmut Steeb und das Verkündungsengelchen Hera Lind. Am aufragenden Ende der dritten schrägen Querachse sitzt der Bundestagsabgeordnete Jens Spahn. Am anderen schräg nach unten führenden Ende schmoren wir – das Publikum – in der Hölle. Die Sitzordnung bildet die konfuse Dramaturgie der Sendung perfekt nach.

Es fängt an mit der Phantasmagorie der Homosexualität. Als unverkörperte Abstraktion namenlosen Schreckens kickt die „Maischberger“-Redaktion diese Figur auf den Lehrplan. Aha, raunt es da aus unserer Hölle. Das kann man lehren? Um Himmels Willen!

Die ARD erweckt den Eindruck, als hätte sie allein für das Aushecken dieses Titels Redakteure zu einem Crashkurs in Putins Propagandaabteilung gejagt. Sie haben alle Zutaten übernommen: die Angst um die Kinder, das Phantasma der Propaganda, die Idee der Verführung.

In der Rhetorik kennen wir diese Anordnung als Chiasmus, als sprachliche Figur, die das in ihr verborgene Rätsel durch die Anordnung der Worte offenbart. Durch den Titel macht sich die Redaktion die Idee eines Kulturkampfs zu eigen.

Maischberger fasst zusammen: Eltern laufen Sturm. Ist das Hysterie oder berechtigte Sorge? Steeb paraphrasiert. Sexuelle Vielfalt bekomme Übergewicht, es fehle die Idee der Familie. Toleranz findet er gut, Akzeptanz nicht. Jens Spahn wendet ein, dass Worte wehtun können. Es sei Unsinn, dass jemand in der Schule schwul gemacht werde. Birgit Kelle greift Steebs Übergewicht auf. Schon der bisherige Sexualkundeunterricht sei fragwürdig. Hera Lind strahlt mit sich selbst um die Wette. Das Überkreuzfunken kommt zum Kern der Debatte: Wo endet das Erziehungsrecht der Eltern? Frau Kelle munitioniert sich aus Papieren der GEW. Ihr Eifer verleitet Jens Spahn zu einem parteipolitischen Manöver. Er warnt vor grün-roten Ideologen. Sie schießen weit über vernünftige Ziele hinaus, drohten das Erreichte an gesellschaftlicher Liberalität kaputtzumachen.

Das Überkreuzspielen bringt Kelle auf die Palme. Sie habe aus den von ihr inkriminierten Papieren erfahren, wie lesbische Frauen mit einander Sex haben. Dass sie lecken. Jones bringt die Pietcongdame auf den Boden der Tatsachen zurück. Das Kreuzzickzack beschleunigt sich. Steeb geht aus der Reserve. Koppelt den Sexualtrieb zurück an den Zeugungsauftrag. Zum Abschluss der Sendung zitiert Frau Maischberger Zuschauerstimmen. Die Stimmen des Volkes erfüllen die Funktion, sich selbst als Moderatorin der Kritik an dem von ihr verursachten Desaster zu entziehen. Sie hat Brandbeschleuniger in einen aufflammenden Kulturkampf gekippt und schleicht versengt vom Feld.

In der Debatte, die mit den Demonstrationen in Paris und dem russischen Antipropagandagesetz begann, gelangt etwas anderes in den Blick: die Reversibilität des erreichten Fortschritts. In Deutschland haben vormoderne Traditionen bis heute auch den vorletzten Kulturkampf überlebt. Es gehört zu den damit verbundenen Paradoxien, dass eine in Folge von der Erhebung Wutbürger ins Amt gewählte Regierung durch Wutbürger des konkurrierenden politischen Lagers wieder weggefegt werden könnte. Das erledigt nicht die Rolle des Staats als Garant gesellschaftspolitischer Neutralität. Gerade deshalb plädieren Reformpädagogen für früh beginnende Vorschulen, um soziale und kulturelle Nachteile schulisch ausgleichen zu können. Da ist der Staat in der Pflicht. Der neue Kulturkampf ist nicht so leicht zu lösen. Schon gar nicht mit dem Kreuz.

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