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Wonnevolle Außenseiter

Die „Horen“ trotzen dem Abwärtstrend auf dem Markt der renommierten Literaturzeitschriften– ausgerechnet im literarisch unauffälligen Bremerhaven. Jetzt gibt es die neue Ausgabe, die sich mit polnischer Prosa beschäftigt

Eine halb verfallene Wand. Die Reste von Putz, die noch zu erkennen sind, formen zwei ineinander übergehende Kreuze. So präsentiert sich das Cover der aktuellen Ausgabe der Literaturzeitschrift „Die Horen“, die sich diesmal der polnischen Prosa widmet. Ist das Titelbild etwa als versteckte Kritik an der in Polen übermächtigen katholischen Kirche zu verstehen? Mitnichten. Herausgeber Johann P. Tammen will nicht zu viel in die Fotografie einer Krakauer Fassade hineininterpretieren. Sie symbolisiere lediglich die „polnische Gegenwart im Widerschein ihrer Vergangenheit“. Mehr wolle er damit nicht sagen.

Aber „wie jede anspruchsvolle Literatur“ seien die Texte der Ausgabe, jeder auf seine Art, schon „kritisch“. Denn: „Die Horen“ versteht sich als „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik“. Das heißt nun aber nicht, dass die sie die aktuelle Debatte um Polens Rechtsruck aufgreift. Eine direkte Auseinandersetzung mit den regierenden Zwillingsbrüdern Kacynski, die Homosexuellen das Leben schwer machen, findet nicht statt. Vielmehr wollen die AutorInnen ihre LeserInnen „durch die Welt Marginalisierter und Ausgeschlossener führen“ und damit Tabus brechen.

Gegründet hat das Projekt 1955 der Schriftsteller Kurt Morawietz – als Forum für noch zu entdeckende Top-Literaten. Den Namen gibt es allerdings schon länger. Bereits Schiller hatte seine Literaturzeitschrift „Die Horen“ genannt. So sehen sich die neuen „Horen“, gemeinsam mit Schiller, dem Ideal der „Ästhetischen Bildung“ verpflichtet: Der Nachwuchs solle sich lieber „an der reichhaltigen Auswahl hochwertiger Literatur“ orientieren als sich „oberflächlicher Zerstreuung“ hinzugeben, sagt Tammen. Er wünscht sich eine „weit verbreitete literarische Diskussionskultur“.

Dieser Vorsatz scheint allerdings mit den „Horen“ nicht ganz leicht umzusetzen zu sein. Lediglich etwa 5.500 Exemplare der preisgekrönten Bremerhavener Zeitschrift finden regelmäßig ihre LeserInnen – trotz Unterstützung des Landes Niedersachsen. Renommierte Kolleginnen mussten bereits das Feld räumen: Die „Frankfurter Hefte“ oder auch das „Kursbuch“ gibt es nicht mehr. Aber davon lassen sich die insgesamt sechs Redaktionsmitglieder der „Horen“ nicht abschrecken. Sie verstehen sich ganz als Überzeugungstäter, arbeiten alle ehrenamtlich. „Wir sind Außenseiter – und das mit Wonne“, sagt Tammen.

Im neuen Heft kommen keine Geringeren als die literarischen Söhne und Töchter der „drei Musketiere der polnischen Avantgarde“ zu Wort. So nannte sich jedenfalls Witold Gombrowicz, gemeinsam mit seinen Mitstreitern Bruno Schulz und Stanislaw Ignacy Witkiewicz. Die polnische Literaturwissenschaft und interessierte LeserInnen handeln die „Musketiere“ des 20. Jahrhunderts inzwischen als das „Dreigestirn der polnischen Literatur“. Jedem dieser Literaten sind in der aktuellen Ausgabe „Brüder und Schwestern im Geiste“ zugeordnet, die insgesamt ein vielschichtiges Bild der polnischen Literatur zeigen. So setzt sich Tomasz Piatek in „Heroin“ mit der Lebenswelt Drogenabhängiger auseinander. Kollege Marek Sieprawski beschäftigt sich dagegen mit der „Flucht vor dem Gelächter“ – in einer Betrachtung der Tücken unserer Konsumgesellschaft.

Nachdem die letzte Ausgabe der „Horen“ sich mit dem kühlen Island befasste, wird das kommende Heft thematisch nach Indien schweifen. Das ist nämlich das Gastland der nächsten Frankfurter Buchmesse. T. Steer

Die Horen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, 2. Quartal 2006, 51. Jahrgang, 240 S.

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