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„Ärzte sind auch Menschen“

WARTEZEITEN Geldgier, Fachärztemangel und überforderte Arzthelferinnen führen zu vollen Wartezimmern, sagt Ver.di-Ärzteexperte Michael Musall

Michael Musall

■ Der 55-Jährige ist Gewerkschaftssekretär für Gesundheitsberufe bei Ver.di Berlin-Brandenburg.

INTERVIEW NINA APIN

taz: Herr Musall, warum muss man als Patient in manchen Arztpraxen ewig warten? Gibt es zu wenig Ärzte in Berlin?

Michael Musall: Nein, die Versorgung mit Ärzten ist im Stadtgebiet absolut ausreichend. Aber sicher ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass Sie bei manchen Ärzten nie lange warten müssen – es gibt also große Unterschiede zwischen einzelnen Praxen.

Woran liegt das?

Vor allem daran, dass Ärzte auch nur Menschen sind: Während der eine schnell arbeitet und damit im Zeitrahmen bleibt, nimmt sich der andere mehr als eine Viertelstunde Zeit pro Patient. Dann müssen die Leute länger im Wartezimmer sitzen. Ich persönlich warte gerne länger, wenn sich der Arzt dafür Zeit für mich nimmt.

„Durch kurzfristige Profitorientierung schaden die Ärzte ihrer Branche“

Das eine hat ja nicht unbedingt mit dem anderen zu tun. In vielen Praxen wartet man trotz Massenabfertigung ewig.

Das hängt mit einer anderen Entwicklung zusammen: Auch Ärzte rationalisieren beim Personal. Wenn die Praxis ganztägig durchgehend geöffnet ist, erhöht sich die Patientenanzahl. Das ist zwar gut fürs Geschäft, bleibt aber die Zahl der Sprechstundenhilfen gleich, erhöht sich folglich deren Arbeitsbelastung. Da entstehen bereits Engpässe, wenn eine ihre Mittagspause macht.

Man bräuchte also nur mehr Praxisangestellte?

Hausarzt-Gehälter

■ Hausärzte haben Berechnungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung KBV zufolge ihre Fachkollegen beim Honorar überholt. Etwas mehr als 206.000 Euro verdiente ein Hausarzt im vergangenen Jahr im Durchschnitt, wie Spiegel Online berichtet. Das Honorar eines Facharztes lag im Schnitt bei 203.000 Euro. Auch beim Reinertrag, also nach Abzug der Kosten, bleiben die Hausärzte knapp vorn: Ihnen bleiben 100.000 Euro pro Jahr, die durchschnittliche Facharztpraxis liegt darunter. Oft verursachten die medizinischen Geräte in speziellen Praxen hohe Kosten, heißt es bei Spiegel Online zur Erklärung. „Hausärzte sind nicht benachteiligt“, kontert KBV-Chef Andreas Köhler deswegen die Proteste von Hausärzten gegen die Gesundheitsreform. (pez)

So einfach ist es natürlich nicht. Ein Teil des Problems ist die etwas unglückliche Verteilung der Ärztegruppen. Während wir in Berlin an jeder Ecke einen Hausarzt oder Internisten haben, fehlt es an bestimmten Fachärzten. Beim Augenarzt müssen Sie bis zu drei Monate auf einen Termin warten, beim Orthopäden sitzen Sie mit einer akuten Erkrankung stundenlang im Wartezimmer – weil es zu wenig Ärzte für den Bedarf gibt. Als Gewerkschaft fordern wir deshalb, die Verteilung zu steuern. Und nicht, wie bisher, den Berufsstandesorganisationen zu überlassen. Man muss politisch regulieren, wer sich wo niederlässt, um die flächendeckende medizinische Versorgung der Bevölkerung zu garantieren.

Die ist in Berlin noch nicht gefährdet, oder?

Nein, aber in Brandenburg gibt es bereits Regionen mit Ärztemangel. In Berlin macht uns eine andere Entwicklung Sorgen: die Personalknappheit in den Praxen. Der Beruf Arzthelferin ist für junge Schulabsolventen, mehrheitlich Frauen, nicht mehr besonders attraktiv. Bezahlung und Aufstiegschancen sind spärlich, Realschulabsolventinnen, die zwischen mehreren Ausbildungsorten auswählen können, wählen inzwischen nicht mehr die Arztpraxis. Durch kurzfristige Profitorientierung schaden die Ärzte ihrer Branche. Schließlich tragen ordentlich bezahlte und motivierte Praxisangestellte zu einer guten Organisation bei. Und damit zur Patientenzufriedenheit. INTERVIEW: NINA APIN

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