: Langer Zug nach Westen
Das Gequalme in deutschen Kneipen ist Ausdruck eines 2.000 Jahre alten Zivilisationsrückstands. Ein Rauchverbot wäre das sichtbare Zeichen für den Auszug aus den finsteren Höhlen Germaniens
VON RALPH BOLLMANN
Der Reisende bemerkt es erst, wenn er wieder zurück in Deutschland ist. Vier Wochen in Rom, täglich mehrmals in der Bar, viele Abende in Pizzeria oder Restaurant – nichts, aber auch gar nichts war ihm aufgefallen. Erst nach der Rückkehr ins heimische Berlin dann die Erkenntnis, was einen Monat lang nicht fehlte: der Zigarettenqualm, der das Essen vergällt, die Kleidung verpestet, dem Abend in der Kneipe Kopfschmerz und Erkältung folgen lässt.
Wie geräuschlos das generelle Rauchverbot in italienischen Bars und Trattorien nun schon seit anderthalb Jahren befolgt wird, hat diesseits der Alpen Erstaunen ausgelöst – umso mehr, als hierzulande seit einigen Wochen eine erstaunlich eifernde Debatte über das Thema tobt, Gastronomen den wirtschaftlichen Ruin befürchten, Raucher ihre Freiheitsrechte bedroht sehen.
Wer diese Diskrepanz verstehen will, kommt um einen tieferen Blick auf Kultur, Geschichte und Mentalitäten nicht herum. Kurz gefasst: Es ist das alte europäische Zivilisationsgefälle von Süden und Westen nach Norden und Osten, das allein die Wirrungen der Rauchdebatte verständlich macht. Noch bei den europaweiten Debatten über Rauchverbote ist der Kontinent beinahe entlang des römischen Limes politisch geteilt.
In Italien oder Frankreich galt es schon immer als unschicklich, im Restaurant zu qualmen. Die kuriose Vorstellung deutscher Raucher, sie dürften die Luft vor, zwischen und nach den Gängen bedenkenlos verpesten, konnte sich dort nie so recht durchsetzen. Aus gutem Grund: Schließlich sitzen an einem der Nebentische stets Leute, die lieber wüssten, wie Seeteufel oder Schwertfisch munden – statt dem Unterschied zwischen Gauloises und Gitanes nachzuschnuppern.
In italienischen Bars erwies sich die Rauchfrage ohnehin nie als wirkliches Problem. Das meistkonsumierte Getränk ist dort ohnehin der „caffè“, Flüssigkeitsmenge: höchstens zwei Schluck, Verweildauer: maximal dreißig Sekunden. Einen solchen Zeitraum überstehen selbst Schwerstabhängige ohne Nikotin, und sobald sie aus der Tür treten, können sie das Feuerzeug ja wieder zücken. Kein Problem in einem Land, dessen knapp 60 Millionen Einwohner in der Öffentlichkeit stets auf den Beinen sind, ob sie nun am Tresen stehen oder auf den Corso gehen. Von deutscher „Gemütlichkeit“ keine Spur.
Anders im finsteren Germanien. Schon immer rotteten sich die Menschen dort in finsteren Höhlen zusammen, um sich in stickiger Luft der Geselligkeit hinzugeben. Gekocht wird in den nördlichen „Kneipen“ ohnehin nicht, allenfalls Essen gemacht. „Ohne feine Zubereitung“, wusste schon Tacitus über die Germanen, „vertreiben sie den Hunger.“ Und statt zum Rauchen schnell mal vor die Tür zu treten, sitzen sich deutsche Kneipengänger lieber den Hintern wund, Stunde um Stunde, Abend für Abend.
Wo bei den Romanen grelle Neonröhren jede Heimeligkeit vertreiben, geht es im Norden meist schummerig zu – ein Ambiente, das ohne Qualm gewiss einiges von seiner Schaurigkeit einbüßen würde. Ginge es nach den Verfechtern dieser Wirtshaus-„Kultur“, müsste man dieses zweifelhafte Raumklima vermutlich als Unesco-Welterbe unter Schutz stellen.
Die antike Zivilisationsgrenze erklärt dann auch, warum etwa Irland trotz seiner traditionellen Kneipenkultur das Rauchverbot früher als Deutschland einführte: Durch den Einfluss christlicher Missionare gelangte die Insel schon im 5. Jahrhundert unter den Einfluss der mediterranen Hochkultur – und konnte sie auch bewahren, als sie am Mittelmeer selbst in den Wirren der Völkerwanderungszeit versank. Viele antike Autoren sind nur durch die Abschriften aus irischen Klöstern überliefert.
In die Wälder Germaniens hingegen konnten Licht und Luft offenbar bis heute nicht wirklich vordringen. Die Römer hatten seit der schmerzlichen Niederlage in der Schlacht am Teutoburger Wald den Versuch einer Zivilisierung ganz Germaniens weitgehend aufgegeben. Umgekehrt beklagten Reisende aus dem Norden noch im 16. Jahrhundert die mangelnde Heimeligkeit der mediterranen Kultur. Nicht nur körperlich, auch emotional hatten sie noch nie so gefroren wie in den aus nichts als Stein erbauten Häusern des Südens.
Ein Rauchverbot in Germaniens Gastronomie würde die Inseln der Heimeligkeit im Meer des unzivilisierten Nordostens zerstören. Das erklärt, warum es so schwer durchsetzbar ist. Gerade deshalb aber wäre es ein äußerlich sichtbares Zeichen, dass ein zweitausend Jahre alter Zivilisationsrückstand aufgeholt und Deutschlands langer Weg nach Westen vollendet ist.
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