IN DER U-BAHN: Ohne Frauen
„Frauen haben längere Haare als Männer. Das sind wohl die Gene.“ Der Mann, der auf dem Bahnsteig neben mir steht, trägt einen alten Bundeswehrparka. Schwarz-Rot-Gold prangt auf seinem Arm, sein graues Haar ist kurz geschoren.
Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust, zu antworten. Meine Laune schreit nach Schlaf, gerade erst hat mich die Müdigkeit aus dem Berghain gespült. Meine Ohren dröhnen, es ist halb elf. „Nee, wir gehen nur seltener zum Friseur“, versuche ich das Gespräch abzumoderieren. Zum Glück kommt in diesem Moment die U-Bahn. Endlich Ruhe, denke ich. Der Mann steigt mit mir ein.
„Wissense, meine Frau ist weg“, brabbelt er weiter. „Und jetzt sagense mir mal, wie ich überleben soll. Wäsche waschen, Geschirr spülen und so.“ Er will reden und ich ein netter Mensch sein. Also lächle ich: „Das kann man doch alles im Internet nachschauen, auch als Video. YouTube-Tutorials und so.“ Internet- statt Feminismus-Lektion. Und immer lächeln. Er schaut mich fragend an.
Die U-Bahn kriecht durch die Stadt, ich muss von Weit-im-Osten nach Weit-in-den-Westen. Scheißgroße Stadt, flucht mein müdes Hirn. „Ich hab kein Internet.“ Der Mann ist hartnäckig. „Dann gehen Sie doch in ein Internetcafé.“ „Kommense dann mit?“ Meine Augen suchen nach Hilfe. Warum kann sich denn kein anderer um den Mann kümmern, vielleicht jemand, der schon geschlafen hat?
Die Minuten sickern in mich hinein. Inzwischen bin ich dazu übergegangen „hmh“ zu brummen, wenn der Mann seine Stimme hebt. „Hmh“ passt auf jede Frage. Kurfürstenstraße, sagt die Lautsprecherstimme. Gleich bin ich da. „Wissense, Sie sind die erste Frau seit zehn Jahren, die so lange mit mir spricht.“ Ich glaube ihm nicht, es fühlt sich trotzdem gut an: jeden Tag eine gute Tat. „Stimmt wirklich. Ich war die letzten zehn Jahre im Knast.“LAN-NA GROSSE
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