: Verschwörer in kurzen Hosen
Wesen von einem anderen Stern: Die rätselhafte Welt der Programmierer
Beim Apfelsinenkaufen treffe ich ihn zufällig: Boris. Er trägt jetzt eine „Frisur“, also etwas willentlich Gestaltetes auf dem Kopf. Nach dem großen Soziologen Max Weber bedeutet „Frisur“ ja, sich gegen borstige Widerstände durchsetzen zu können. Wir sprechen kurz über das Wetter und eine aktuelle politische Weltverschwörung. Dann bemüht sich Boris, mir in endlos verschachtelten Sätzen kurz zu erklären, was er jetzt gerade so „macht“. Sein spiddeliger Körper wird von einem beigen Sommeranzug lässig umspielt, aber das ist eine Lüge. Denn ich kenne Boris noch von früher. Damals materialisierte sich mir sehr eindrucksvoll die Theorie der „zwei Kulturen“ (C. P. Snow), die Kluft des gegenseitigen Nichtverstehenkönnens noch -wollens von Geist und Technik.
Zwei Jahre haben wir herrlich gegeneinander gearbeitet, in der großen Internetagentur. Ich sagte: „Machen wir das einfach so und so.“ Boris sagte: „Das geht nicht.“ Mitleidig grunzendes Gelächter. Wie die „Kreativen“ sich das immer so vorstellen!
Boris und seine Unterprogrammierer trugen die meiste Zeit des Jahres kurze Hosen, von März bis Oktober. Dazu ein kariertes Holzfällerhemd, wie es gern in Hollywood-Teenie-Komödien der Achtzigerjahre von rebellischen Typen getragen wurde. Boris war auch mal zwei Jahre bei der Bundeswehr, hat da einen Lkw-Führerschein und die goldene Schützenschnur gewonnen: „Ob 15 Monate oder 24, da kannste auch gleich die zwei Jahre hingehen.“
Schon als Kind hat Boris viel gelötet, alleine vor sich hin. Später hießen seine besten Freunde Commodore 64 und Floppy Disk. Was er gern mag? Bruce Springsteen, Cordon Bleu, sich über Frauen schlapp lachen. Was er nicht mag: Arbeit, Arbeit, Arbeit.
Seine Unterprogrammierer waren Russlanddeutsche mit einer Gemüseallergie. Sie fügten sich seiner natürlichen Autorität oder besser: seiner Transpiration. Denn Boris schwitzte, nicht nur im Sommer, sondern das ganze Jahr über.
Die Unterprogrammierer hießen Stefan oder Vladimir. Politisch präferierten sie einen liberalistischen Vulgärsozialdarwinismus mit nationalbolschewistischen Aberrationen. Da müsste der Staat auch mal dringend durchgreifen.
Die Unterprogrammierer freuten sich über jeden, der mal mutig seine Meinung sagte, kannten sämtliche Weltverschwörungen und hatten bei TV Spielfilm mal was über unterirdische Folterlabore gelesen („Achtung: geheim!“). Sport trieben sie eher nicht, dafür schoben sie per Fahrgemeinschaft in die Agentur, gleich als Erste. Und zum Mittag gab’s gut gelaunte Mettwurstzwiebelbrötchen: „Da sparste ’ne Menge.“
Wenn die Programmierer Geburtstag hatten, schenkten sie sich untereinander gern „Spaßgeschenke“, zum Beispiel einen singenden Fisch, denn Gefühle konnten sie nicht anders „zeigen“. Erbarmte sich schließlich eine medizinisch-technische Angestellte ihrer, dann wurde sofort geheiratet. Bald kamen Kinder und gerahmte Fertigbilder in das neue Heim, mit den zerfließenden Uhren von Dalí, die einen schönen Kommunikationsanlass boten, über Raum und Zeit und die Weltformel. Im Flur brieten atmungsaktive Schuhe.
Boris redet immer noch vor sich hin. Schnell weiter jetzt!
GERALD FRICKE
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