: Rechne selbst im Internet
REGELSATZ Eine Dresdner Initiative erstellt eine Webseite, in der Nutzer eigene Berechnungen für ein menschliches Existenzminimum einbringen können
DRESDEN taz | Sie nehmen die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichtes wörtlich, ALG-II-Regelleistungen in einem „transparenten und sachgerechten Verfahren“ zu ermitteln. Seit heute ist unter http://genug.fueralle.org/ eine Webseite erreichbar, auf der jeder Bürger seine persönlichen Erfahrungen und Berechnungen für ein menschenwürdiges Existenzminimum einbringen kann. „Wir wissen selbst, was wir brauchen“, heißt es in dem Aufruf der Initiative, die ihren Sitz in Dresden hat.
Die Kampagne versteht sich als bewusster Gegenentwurf zum Regierungsvorschlag und dem ihm zugrunde liegenden Berechnungsverfahren für die Regelsätze.
Die gedanklich Attac nahe stehende Gruppe ist auch früher schon mit spektakulären Aktionen in Erscheinung getreten, die die Krise der Erwerbsarbeit diskutierten und Chancengerechtigkeit einforderten. Darunter war beispielsweise die Kampagne „Dresden umsonst“, die auf eine kostenlose Benutzung aller öffentlichen Nahverkehrsmittel zielte. Zu ihrem persönlichen Schutz treten die Mitglieder nur noch unter Pseudonym auf, was sie auch den Nutzern ihrer Seite empfehlen. Sprecher Peter Galynski betont, dass man selbstverständlich die repressiven Hartz-Gesetze „überhaupt nicht gut“ finde. Ungeachtet dieser grundsätzlichen Ablehnung wolle man sich aber „realpolitisch einmischen“, sagt der momentan selbst arbeitslose Psychologe.
Denn das seit 1996 übliche Statistikmodell zur Berechnung der Regelsätze wird von der Gruppe abgelehnt. Deren Basis ist eine Verbrauchsstichprobe, die sich am untersten Fünftel aller Einkommen orientiert. Die zugrunde liegenden Rohdaten seien nicht verfügbar, kritisiert Galynski, und auch die gut gemeinten Berechnungen der Wohlfahrtsverbände seien nicht transparent genug. Mit der spontanen Erfassung von Selbstberechnungen über das Internet kehrt die Dresdner Initiative ansatzweise zum früheren Warenkorbmodell zurück. „Das ging zumindest noch vom Bedarf aus, den man freilich diskutieren kann“, meint der Sprecher.
Interessierte müssen sich aus Sicherheits- und aus softwaretechnischen Gründen auf der „Genug für alle“-Seite anmelden. Dann können sie eine Tabelle anlegen und in einem Forum diskutieren. Die Seite bringt damit in eine übersichtliche und vergleichbare Form, was an Blogs zum Hartz-IV-Thema bereits kursiert. In verschiedenen Kategorien, die auch zu den Komponenten der bisherigen Regelsatzberechnung zählen, kann man sich verbal oder in Zahlenbeispielen zum eigenen Mindestbedarf äußern. Das muss nicht auf einen Schlag geschehen, man kann auch über Tage und Wochen an seinem Mustereintrag arbeiten. Berücksichtigt wird neben der zu versorgenden Personenzahl auch die städtische oder ländliche Wohnumgebung.
Erste verfügbare Beispielrechnungen zeigen, dass plausible und reale Lebenshaltungskosten auch auf unterstem Niveau noch deutlich über dem derzeit geltenden Modell liegen. So muss Forumsmitglieder zufolge auch ein notorischer Radfahrer monatlich etwa das Vierfache für Mobilität ausgeben als die veranschlagten 14,36 Euro. Besondere Ermessensspielräume ergeben sich erwartungsgemäß bei Ernährung und Kleidung. Von Interesse dürften auch die Ausgaben für Bildung, Freizeit und Kultur sein, mit denen, so Galynski, „das eigentliche Leben erst anfängt“.
MICHAEL BARTSCH
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