MILCHKAFFEE IN DER U-BAHN: Nichts Persönliches
Ein Junge mit Schulranzen betritt die U-Bahn am Kurt-Schumacher-Platz. Um nach hinten durchzugehen, schlüpft er unter dem Arm eines älteren Mannes in abgetragener grauer Arbeitskleidung durch. Sein Ranzen streift den Extra-Large-Pappbecher, den der Stehende hält. Der Becher fällt, schlägt auf, ein halber Liter Milchkaffee ergießt sich über den Boden.
„Ey, samma“, der Mann in Grau ist fassungslos, „wie dumm issen det? Hallo? Kannste nich mal Entschuldijung sagen? Ick fasset ja nich.“ Er wird mit jedem Satz lauter. Die Situation ist ihm peinlich, also reagiert er sich daran ab, dass der Junge das Malheur einfach ignoriert hat. „Mann, ey“, zetert der Graue, „so wat Frechet. Frech und dumm, det is echt nicht zu glauben.“
Die Pfütze verteilt sich derweil unter den neugierigen Blicken der Fahrgäste. Hellbraune Tentakel bahnen sich ihren Weg in und gegen die Fahrtrichtung, einer schiebt sich unter eine Douglas-Einkaufstüte. Der ganze Wagen riecht jetzt nach Kaffee.
„Ich glaube, der hat das nicht gemerkt“, sagt ein anderer Mann zu dem Grauen, und bevor der etwas erwidern kann, legt die ältere Frau an der Haltestange nach. „Kann ja mal passieren. Nehmset nich persönlich“, berlinert sie, ohne unfreundlich zu werden.
Der Graue ist verunsichert, dass niemand ihn unterstützt. Seine Empörungskulisse fällt in sich zusammen. „Selbst schuld, wa“, brummelt er mit Blick auf den gelben Verbotsaufkleber vor seiner Nase, der neben einer stilisierten Pommestüte auch einen Getränkebecher zeigt. Beim nächsten Halt verlässt er die Bahn, macht aber sofort wieder kehrt: „Jetzt steig ick schon falsch aus. Bin ja voll durch’n Wind von der Sache.“
Dann ist er wirklich weg. Die Kaffeetentakel haben sich weiter zerdehnt, aber bei jedem Bremsen und Beschleunigen setzt sich eine winzige braune Flutwelle in Bewegung, hin und her, hin und her. CLAUDIUS PRÖSSER
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